Die Untere-Masch-Straße 10 wurde am 5. November 2015 besetzt und am 1. März von ihren Besetzer*innen aufgekauft.
Quelle: Our House – OM 10

Problem: Wohnraum ist eine Klassenfrage

Ein Großteil unseres Lohnes geht für das Wohnen drauf. Die meisten Lohnabhängigen wohnen zur Miete, befinden sich also auch hier wie im Betrieb in einem permanenten Abhängigkeitsverhältnis. In deutschen Großstädten ist die Miete mit circa 30 Prozent des Einkommens im Schnitt die größte Ausgabe, die wir tätigen. Umgekehrt verfügt ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung – Vermögende, Großverdiener und Wohnungsgesellschaften – ein Gros an Wohnraum. Niedrige Zinsen wandelten Immobilien auf diese Weise immer mehr zur lukrativen Kapitalanlage, zum profitablen Spekulationswert.

Die ungleiche Entwicklung von Mieten und Löhnen verschärft sich seit Jahren, sodass die wiederaufflammende Soziale Frage auch die Wohnraumpolitik wieder öffentliche Aufmerksamkeit beschert. Hausbesetzungen werden als politisches Mittel gesehen, um auf Leerstand und zu hohe Mieten hinzuweisen. Ob OM10, Nansen1 oder die versuchte Besetzung des ehemaligen Pädagogischen Seminars: Hausbesetzungen wurden in Göttingen wieder zunehmend zu einem Thema. Zugleich blickt die Stadt aber in Bezug darauf auf eine längere Geschichte zurück. Dass das Thema wieder aufkommt, ist wesentlich durch die Wohnmarktsituation bedingt. Vor allem seit der Wirtschaftskrise 2008 gerät die sozialstaatliche Einhegung vom Konflikt von Kapital und Wohnenden, die in den 70ern durch sozialen Wohnungsbau gesetzt wurde, angesichts einer Finazialisierung der Immobilienwirtschaft in eine Krise. Vor diesem Hintergrund müssen wir solche sozialen Kämpfe verstehen.

Mietpreisentwicklung in Göttingen

Wie in fast allen deutschen Städten kämpft auch Göttingen mit einer angespannten Wohnmarktsituation, über die mich der Geograph Michael Mießner aufklärte. Seit 2013 haben wir es in der Gesamtentwicklung mit Mietpreissteigerungen von circa 25 Prozent zu tun. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass wir es mit unterschiedlichen Preisentwicklungen in den verschiedenen Stadtteilen zu tun haben: Lange Zeit verzeichneten insbesondere die Innenstadt, die Nordstadt und Weende sowie das Ostviertel mit Abstrichen einerseits die teuersten Mieten sowie andererseits die höchsten Mietzuwächse. „Das ändert sich jetzt in letzten Jahren zunehmend dahingehend, dass wir es stärker mit höheren Preissteigerungen in den günstigeren Quartieren zu tun haben. Also in Grone und der Weststadt mittlerweile die höchsten absoluten Preissteigerungen“, so Mießner. Dies erhöht den Druck auf die unteren Einkommensschichten, denen es zunehmend schwerer fällt, eine passende Wohnung zu finden. Zwar werden Mieter*innen in Göttingen teils auch raus saniert, Mießner meint jedoch, wir hätten es hier mit einer „anderen Eskalationsstufe“ als in den Großstädten Berlin oder Hamburg zu tun. Dass Göttingen eine Universitätsstadt ist, sei mitgedacht: Ein Argument ist, dass Studierende die Mieten erhöhen und die übrigen Bewohner*innen aus ihren Beständen verdrängen. Gerade in der Innenstadt, der Nordstadt und Weende leben viele Studierende und verhältnismäßig wenige Empfänger*innen von Transferleistungen. Mießner berichtet mir allerdings, dass es „die Vermieter sind, die Präferenzen für Studierende haben, weil diese über WGs höhere Mieten verlangen können, als Familien mit Kindern bezahlen könnten“.

Mießner betont, es gäbe hier auch Vermieter, die genau die Eigenschaften von Studierenden nutzen, um die Mieten anzuheben: „Man muss aber auch sagen, dass in den letzten Jahren immer mehr Studierende, als Ausweichstrategie würde ich es bezeichnen, aus eher studentischen Vierteln nach und nach in die Weststadt oder Grone ausweichen, weil sie dort günstige Mieten vorfinden.“

Das führt dazu, dass die noch bezahlbaren Gegenden für Sozialhilfeempfänger*innen sowie Menschen in unteren Einkommensschichten immer knapper werden. Sie werden gezwungen, sofern vorhanden, in heruntergekommene Stände zu ziehen, die besonders günstig sind. Zwar ließe sich dies noch nicht beobachten, jedoch vermutet Mießner, dass bereits einige aus der Stadt auszögen: „Und generell werden auch Familien, also auch Mittelschichtsfamilien gerade zunehmend entweder in Eigentum gedrängt, wenn sie es sich noch leisten können, oder auch an den Stadtrand oder ganz raus aus der Stadt.“

Mietpreisentwicklung in Göttingen unterteilt in Stadtgebiete
Mietpreisentwicklung in Göttingen unterteilt in Stadtgebiete.
Quelle: Kartografie: M. Mießner, Universität Göttingen

Haben wir es also mit klassischen Gentrifizierungsprozessen zu tun? Die klassische Gentrifizierung geht eigentlich davon aus, dass es über immobil wirtschaftliche Aufwertungen in bestimmten Stadtquartieren zu Mietpreissteigerungen und Eigentumsmodernisierung kommt, „also was immer als Luxussanierungen verhandelt wird“. Einkommensschwache Bevölkerungsschichten werden verdrängt. Im Fall Göttingen passe dieser Begriff laut Mießner aber nicht ganz: „Ich sage mal, mit einer ganz klassischen Aufwertung von Quartieren haben wir es im Moment hier nicht zu tun, dafür sind die Entwicklungen innerhalb der Stadt zu kleinteilig. Ich benutze lieber den Begriff der Segregation, also der sozialräumlichen eher indirekten Verdrängung, weil das ein bisschen stärker die indirekten Mechanismen mit fokussiert.“

Verdrängungsprozesse in dem Sinne, dass relativ harte Strategien angewendet werden, um die Menschen aus ihren Wohnungen zu vertreiben, haben wir hier nicht so deutlich: „Das sind eher normale Marktprozesse, die hier stattfinden“, so Mießner.

Hausbesetzungen als Mittel des Protests?

Hausbesetzungen haben Methode. Mehr noch: Sie sind Methode. Hausbesetzungen sind Formen zivilgesellschaftlichen Widerstands und immer auch eine Reaktion auf die sich verschärfenden Konsequenzen eines zunehmend deregulierten Wohnungsmarkts. Der Gebrauchswert eines Wohnhauses wird durch seine aktivistische Aneignung gegenüber seinem Tauschwert diskursiv aufgewertet. Zugleich ist es oft das Ziel, das Wohnobjekt durch die Aushandlung von Neuverträgen langfristig gemeinwohlorientiert zu sichern. Moralisierung und Skandalisierung über alle zur Verfügung stehenden Kanäle sind die schärfsten Waffen in den Händen der Besetzer*innen. Diese Art der provokativen Auseinandersetzung mit öffentlichen, privaten (und leerstehenden) Infrastrukturen sowie der faktischen Verdrängung gesellschaftlich immer stärker marginalisierter Gruppen im Rahmen von Gentrifizierungsprozessen, hat den Zweck, die Öffentlichkeit zu politisieren und somit Druck auf die Entscheidungsträger*innen auszuüben. Je größer der öffentliche Rückhalt, die kooperative Solidarität und wirkungsvolle Unterstützung für die Besetzer*innen, desto wahrscheinlicher ist es, dass die zum Handeln gezwungenen Verantwortlichen einlenken. Hausbesetzungen weisen auf offen zutage tretenden Missstände hin. Diese Signalwirkung von Hausbesetzungen erweckt sozusagen ein kritisches Bewusst- und Aktivsein in der Öffentlichkeit. Demokratie lebt davon wie bewusst die Menschen die Veränderbarkeit ihrer eigenen Lebensumstände wahrnehmen. Hausbesetzungen gehören deshalb zum Standardrepertoire partizipativer Graswurzelmentalität. Sie verteidigen praktisch das Menschliche vor dem Ökonomischen. Sie sind die gelebte ‚wehrhafte Demokratie‘.

Die OM10 – Positivbeispiel einer erfolgreichen Besetzung

Das ehemalige DGB-Gebäude in Obere-Masch-Straße 10 wurde zu einem Hort für Geflüchtete.
Quelle: Our House – OM 10

Sie war der Stein des Anstoßes für zahlreiche Häuserinitiativen in Göttingen und darüber hinaus – die Besetzung der Oberen Maschstraße 10. Das Gebäude am Platz der Synagoge stand seit 2009 leer und wurde zuvor als Gewerkschaftshaus vom DGB genutzt, der gleichzeitig Eigentümer war, nachdem es die jüdische Gemeinde ihm übertragen hatte. Am Vormittag des 5. Novembers 2015 entschlossen sich Aktivist*innen dazu, das seit sechs Jahren unbewohnte Haus zu besetzen, um auf diese Weise auf die unvernünftige Sinnlosigkeit von Leerstand bei gleichzeitiger Wohnungsnot und anhaltenden Mietpreissteigerungen aufmerksam zu machen. Zudem wurde die mangelhafte organisatorische Reaktion der Politik und der Stadt auf die damalige Migrationsbewegung von Geflüchteten nach Europa und Deutschland kritisiert. Das Grenzdurchgangslager Friedland, die Notunterkunft Siekhöhe und provisorische Unterkünfte in Turnhallen – Sinnbilder für das Staatsversagen, das Bürger*innen durch freiwilliges Engagement aufzufangen versuchten –, sie sind zahlreich und ein Beleg für die oftmals miserablen Zustände als Folge der politischen Überforderung der Verantwortlichen. Es war die Geburtsstunde der OurHouse-OM10-Initiative (OM10), die rasch den Kontakt zur Presse und zu dem DGB suchte.

Schnell wurde klar, dass das Projekt der OM10 weit mehr als eine kurzlebige, spontane Laune war, sondern dass es den Aktivist*innen neben der medialen Formulierung von Kritik an der wenig gemeinwohlorientierten Wohnraumpolitik der letzten Jahre auch um eine langfristige Perspektive für selbstverwaltetes und inklusives Wohnen ging. Die Besetzer*innen begannen damit, die verfallene Büroanlage wohnlich herzurichten und die ersten Geflüchteten konnten untergebracht werden. Solidaritätsbekundungen machten das Projekt über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und der Drahtseilakt für die Vertreter*innen des DGBs hatte begonnen.

Nachdem deutlich wurde, dass es den Aktivist*innen mit ihrem Anliegen durchaus ernst ist und öffentlicher Zuspruch sowie Spenden ihnen den Rücken gestärkt hatten, brach der DGB sein zurückhaltendes Schweigen. Es waren die Äußerungen vom niedersächsischen DGB-Landeschef Hartmut Tölle, dessen Wortwahl mit rechtspopulistischen Begriffen und Gedanken liebäugelte. Man müsse „bei allem Gutmenschentum, auch mal aussprechen, dass die Neigung, Flüchtlinge in der Altstadt zu haben, nicht so ausgeprägt ist“. Einem kindlichen Sandkasten-Reflex folgend wurde beklagt, dass das Haus „widerrechtlich besetzt“ wurde, natürlich ohne sich zu einzugestehen, die eigene jahrelange Tatenlosigkeit hinsichtlich des Leerstands zu erklären. Der DGB und die Stadt schoben sich hier munter gegenseitig die Schuld in die Schuhe, wie mir OM10-Aktivist Markus S. berichtet: „Die haben es einfach beide verschludert und sich das dann gegenseitig vorgeworfen.“

Tölles Statement sorgte jedoch für Empörung – auch und besonders innerhalb der lokalen Gewerkschaftsstrukturen. In der Folge entschied man sich beim DGB für Imageschadensbegrenzung. Die Möglichkeit der polizeilichen Räumung war gänzlich vom Tisch und die Verhandlungen über den Verkauf der Immobilie starteten im Herbst 2016. Die Stadt Göttingen blieb während des ganzen Projekts recht blass, vermutlich, weil man als kritisierte Behörde und politische Institution die Füße stillhalten wollte, um nicht noch selbst unnötig Staub aufzuwirbeln. Nach zähem Ringen mit Vertreter*innen der Treuhandgesellschaft des DGB und einem rechtlichen Professionalisierungsprozess der OM10 ging das Gebäude im März 2017 in den Besitz der eigens hierfür von den Besetzer*innen gegründeten GmbH über, die zu diesem Zweck hauptsächlich private Kreditgeber akquirieren konnte. Damit gelang Planungssicherheit bezüglich einer langfristigen Unterbringung sowie umfassenden Sanierungsarbeiten. Die sind heute weitestgehend abgeschlossen.

Und auch der nächste Schritt hin zur Verstetigung ist bereits getan: Die Geschäftsanteile der GmbH wurden zur Hälfte an das Mietshäuser Syndikat verkauft. Sollte es zukünftig also dazu kommen, dass es keinen mehr gibt, der die OM10 autonom verwalten, ist sichergestellt, dass das Gebäude nicht einfach auf dem freien Immobilienmarkt verscherbelt werden kann. Die Anteile des Syndikats lassen dies nicht zu, wie mir Markus erklärte: „Beim Kauf war uns relativ schnell klar, dass das mit einer Struktur wie dem Mietshäuser Syndikat im Rücken eine gute Sache ist, einfach weil da viel Knowhow ist. Da geht’s ja vor allem auch um Wissenstransfer. Insofern haben wir einen Verein gegründet und aus dem Verein heraus eine GmbH, die das Haus gekauft hat.“

Dass Wohnraum-Transpis heute einen festen Platz im Göttinger Stadtbild haben, dazu hat die OM10 zweifelsfrei einen großen Beitrag geleistet. Die Signalwirkung dieser Aktion und insbesondere der letztlich erfolgreichen Standhaftigkeit der Aktivist*innen beeinflusste nachfolgende Projekte (Gartenstr. 27, Gauss-Str. 4, Nansen1). Die OM10 ist daher beispielhaft für die moralische Wirkung der Skandalisierung von Leerstand und einer gescheiterten Wohnungspolitik. Die Vernetzung mit anderen Initiativen in Göttingen und auch bundesweit schreitet immer weiter voran und der Wissenstransfer in Sachen Finanzplanerstellung, Rechtsfragen oder Baumaßnahmen ermöglicht anderen Aktivist*innen einen Lernprozess. Zudem sind das Bürger*innenforum Wageplatzviertel, offene Mietberatung, Flüchtlingscafé und Freiraum für Vereine inzwischen fest etablierte Anlaufstellen in der Innenstadt, wie Markus von der OM10 berichtet. Die Welle der Solidarisierung half den Beteiligten, gerade in der Anfangsphase, dabei enorm. Von Soliküchen, Bioläden, Gebrauchtmöbelunternehmen bis hin zum Motorradclub „Kuhle Wampe“, der der OM10 einen Kopierer spendete – die zivilgesellschaftliche Zuwendung und Unterstützung diente als emotionale und materielle Stütze.

Auch in der direkten Nachbarschaft, erzählt Markus weiter, habe man viel Zustimmung erfahren. „Die Hilfe ging los, sagen wir mal einfach bei den Nachbar*innen hier aus den Straßen, die Essen vorbeigebracht haben, weil sie gemerkt haben, hier wird jetzt gekocht oder so. Wir hatten auch Nachbarschaftsflyer und Infos rausgegeben. Da kamen einfach Leute vorbei, die sonst nicht politisch organisiert sind. Wir finden das total unmöglich, dass das Haus so lange leer steht, jetzt passiert hier was.“ Einmal, erinnert sich Markus, stand die Polizei nachts um zwei vor der Tür. Nach anfänglichem Schock stellte sich schnell heraus, dass die Beamten einen Obdachlosen aufgegriffen hatten, von dem sie nicht wussten, wo sie ihn unterbringen sollten. Selbst solche absurden Anekdoten gibt die Chronik der OM10 also her. Derzeit, meint Markus weiter, beherbergt die OM10 23 Bewohner*innen. Die Sanierungsarbeiten im Inneren des Gebäudes sind abgeschlossen, als nächstes steht die energetische Sanierung der Fassade an.

Nansen1 – Antithese einer erfolgreichen Besetzung

Als das Fridtjof-Nansen-Haus in der Merkelstraße leerstand, wurde es von Aktivist*innen besetzt. Heute steht es immer noch leer.
Quelle: A. Fürniß

Ein weiteres bekanntes Projekt war die Besetzung des Fridtjof-Nansen-Hauses in der Merkelstraße 4 durch die Initiative „Our House Nansen 1“. Der Seitentrakt des Gebäudes diente in der Vergangenheit dem Göttinger Goethe-Institut als Wohnheim für ausländische Studierende und stand bereits seit geraumer Zeit leer. Wie schon der Name vermuten lässt verstanden sich die Besetzer*innen in aktivistischer Kontinuität zur OM10. Am Morgen des 30. April 2018 verschaffte man sich Zutritt zu den Räumlichkeiten und Wohneinheiten, die im Nachhinein von einer Person im Umfeld der Besetzer*innen als „fast bezugsfertig“ beschrieben wurden. Dazu zählen sieben abgeschlossene Wohneinheiten samt Bad und Küche sowie 30 Einzel- und Doppelzimmer. Im Einklang mit der OM10 kritisierten die Beteiligten in der Folge, dass die Massenunterkünfte für Geflüchtete in der Göttinger Siekhöhe den Ansprüchen für eine langfristige und menschenwürdige Unterbringung nicht genügen würden. Da die Stadt die Anlage dort jedoch wiederholt mit dem Verweis auf mangelnde Alternativen rechtfertigte, ergriffen die Aktivist*innen die Chance nachdrücklich und ganz praktisch, auf sehr wohl existente Ausweichmöglichkeiten hinzuweisen. Das Ziel war vor diesem Hintergrund auch, mit Nachdruck auszusprechen, dass die Stadt daran arbeitete, das Gebäude auf dem freien Immobilienmarkt zu veräußern, während man sich händeringend nach besseren Unterbringungsmöglichkeiten für Geflüchtete suchend präsentierte. Eine Person der damaligen Nansen-Besetzer*innen gibt an: „Es macht dann auch wütend und betroffen, wenn man weiß, der Wohnraum, der der Stadt gehört, wird an Privatinvestoren bzw. -unternehmen verkauft.“

Die Besetzung beförderte eine öffentliche Debatte über die ungenutzten Möglichkeiten das Nansen-Hauses mit samt dem dazugehörigen Areal, zu dem unter anderem ein Volleyballplatz und eine weitläufige Wiese zählen, zu einem attraktiven Nachbarschaftszentrum für Geflüchtete zu machen. Die Stadt, insbesondere die Ratsfraktionen der SPD und CDU, verwiesen hierbei allerdings immer wieder energisch darauf, dass eine Instandsetzung der Wohnanlage eine Kostenexplosion nach sich ziehen würde, weshalb die Forderung der Aktivist*innen abgelehnt wurde. Verschiedentlich gab es an dieser Argumentation jedoch erhebliche Zweifel, die in jener Darstellung der Stadt eine überzogene Ausflucht erkennen. Interessanterweise berichtet eine Person aus dem Umfeld von Our House Nansen 1, dass man sich von Beginn an darüber klar war, dass die Lage und der Grundriss des Gebäudes, anders als bei der OM10, eine Räumung durchaus erleichtert hätte. Daher hatte man keine illusorischen Hoffnungen, eine ähnliche Verstetigung wie bei der OM10 zu erreichen. Stattdessen sei das Ziel gewesen, eine breite, überregionale Öffentlichkeit zu erreichen und so den medialen Druck auf die Stadt zu vergrößern, die Einrichtung in der Siekhöhe aufzugeben. Wie im Fall der OM10, erfuhren die Aktivist*innen von Our House Nansen1 Neugier und breite Solidarität – auch von Passant*innen, Nachbar*innen bis hin zu Bewohner*innen einer angrenzenden Seniorenresidenz. Zusätzlich positionierten sich abermals die relevanten politischen Gruppen, Parteien und Verbände zur Nansen-Besetzung und es galt, der Stadt in dieser Angelegenheit Stellung zu beziehen: Während man viele Menschen auf wenigen Quadratmetern zusammenpfercht, kaum Privatsphäre und Tageslicht zulässt, wird zur selben Zeit ein potenziell ideales Anwesen für diese Menschen abgestoßen und privatisiert. Die politisch Verantwortlichen gerieten in Erklärungsnot.

Von der anderen Seite aus gelangt man ins Goethe-Institut.
Quelle: A. Fürniß

Inhaltlicher Wissenstransfer und idealistische Motivationsschübe aus der OM10 waren den Aktivist*innen der Nansen-Besetzung eine große Hilfe, wie aus ihrem Umfeld berichtet wird. Doch letztlich erfolgte am 7. Mai 2018 die polizeiliche Räumung. Anders als bei der OM10 lag die Entscheidungsgewalt über das weitere Vorgehen nicht beim DGB, sondern beim Goethe-Institut, da dieses sich noch als Mieter verantwortlich zeichnete. Die Stadt konnte auf diese Weise, wenigstens formal und mit eingeschränktem Erfolg, ihre Hände in Unschuld waschen, als die Räumung angeordnet wurde. Dennoch konnte in einer Woche viel und auch überregional Aufmerksamkeit erzeugt werden, was die Aktivist*innen positiv bewerteten, wie eine Person aus ihrem Umfeld angibt. Darüber hinaus betont diese, dass es ihr hinsichtlich des politischen Anspruchs der Besetzung immer wichtig sei, gegen das Ausspielen von gesellschaftlichen, sozioökonomisch schwachen Gruppen Stellung zu beziehen. Die Spannungs- und Konfliktlinie verlaufe nicht etwa zwischen Geflüchteten und Obdachlosen und Studierenden, sondern zwischen Geflüchteten, Obdachlosen und Studierenden auf der einen Seite und auf der andern Seite profitorientierten Unternehmen, die ihre Verfügungsgewalt über Wohnmöglichkeiten oftmals einzig unter der Bedingung persönlicher Bereicherung verleihen. Gegenwärtig, ein Jahr nach der Besetzung, hat das Goethe-Institut gegen die Aktivist*innen über 25 Strafbefehle erlassen und verweigert zugleich die Aufnahme von Gespräch und Dialog. Schwierig, darin nicht den Versuch einer moralisch-justiziablen Diffamierung als verbrecherische Straftäter zu sehen. Derweil ist das Nansen-Haus an den Göttinger Hogrefe-Verlag verkauft worden.

Fridtjof Nansen, den Namenspatron der Immobilie und renommierten Wissenschaftler, der 1922 den Friedensnobelpreis für seine humanitären Verdienste in der globalen Flüchtlingshilfe im Völkerbund erhielt, kann man leider nicht mehr nach seiner Einschätzung dieser Sachverhalte fragen. Schade eigentlich.

Hauskauf der Goßlerstraße 17/17a

Anfang 2017 verkündete das Studentenwerk erhebliche Mietpreissteigerungen aller Wohnheime in der Stadt. Mehrere selbstverwaltende Wohnheime gingen auf die Barrikaden und weigerten sich, die neuen Mieten zu bedienen, unter anderem die Großlerstraße 17/17a. Das Haus wurde wie viele andere umliegende Wohnobjekte, Anfang der 1980er besetzt und später in einem Prozess der Legalisierung dem Studentenwerk überführt. Erst jüngst (Dezember 2018) kauften die Bewohner*innen über einen selbst gegründeten „Verein zur Förderung von Bildung, Kultur und studentischem Leben“ eben jenes Wohnheim vom Studentenwerk auf und widmen sich seitdem, ähnlich der OM10, politischen wie gemeinnützige Zielen. Als der Streit zwischen dem Studentenwerk und den Bewohner*innen im Sommer 2017 eine neue Qualität erreichte, war mit solch einer Lösung wohl kaum zu rechnen.

Zum Verständnis muss der Streit zwischen dem Studierendenwerk und verschiedenen Wohnheimen kurz dargestellt werden: Prof. Magull, der Chef des Studentenwerks, erklärte 2012, dass perspektivisch alle Wohnheime unter einer gewissen Anzahl von Plätzen nicht mehr rentabel seien, was quasi alle kleinen Wohnheime in der Innenstadt oder außerhalb betraf – auch viele linke selbstverwaltende Wohnheime. Als Reaktion darauf hat sich aus zahlreichen kleinen Wohnheimen des Studentenwerks heraus im Sommer 2012 die Wohnrauminitiative gegründet.

Die Wohnrauminitiative gründete sich, als der Streit zwischen Studentenwerk und verschiedenen kleineren Wohnheimen in der Stadt entfachte.
Quelle: Wohnrauminitiative

Infobox: Die Wohnheiminitiative (kurz: Wohnraum-ini) ist sich ein bisschen vorzustellen wie eine Art Basis-gewerkschaft, nur eben für Mieter*innen. Wann immer ein Haus betroffen ist, werden deren Bewohner*innen beraten und geschaut, wie man sie unterstützen kann. Letztlich führen diese aber im Kern den Konflikt selbst. Die ihr enthaltenen Häuser werden auch nicht alle vom Studentenwerk verwaltet oder sind in deren Besitz. Mitunter schließen sich auch Wohnheime an, die ganz andere Vermieter haben oder schon länger selbstverwaltend sind und sich selbst gehören. Die Wohnraum-ini ist basisdemokratisch organisiert und trifft sich regelmäßig zu Plenarsitzungen.

Ein Thema in den nächsten Jahren waren dann vor allem Transparente: Viele Wohnheime haben sich entschieden, am demokratischen Partizipationsprozess über das Mittel der Transparente teilzunehmen, bemalte Bettlaken aus dem Fenster zu hängen und sich so zum Rechtsruck in der Gesellschaft oder zu Arbeitsbedingungen zu positionieren. Das Studentenwerk drohte mehrfach Wohnheimen mit Abmahnungen, die es teils auch vollzog. Die Wohnrauminitiative arbeitete dem politisch entgegen, um das Mittel der politischen Transparente zu erstreiten. 2014 entbrannte ein Konflikt mit den Bewohner*innen der Humboldtallee 9 (H9), die sich den Abmahnungen des Studentenwerks widersetzte und wiederholt Transparente rausgehangen hatten. Darauf reagierte das Studentenwerk damit, dass die Belegung der dortigen Dachgeschosswohnung fortan nicht mehr durch die Bewohner*innen des Hauses bestimmt werden sollte.

Hauke Oelschlägel, Mitglied in der Wohnrauminitiative und Bewohner der H9 schildert dazu: „Die haben uns einen Brief geschrieben: ‚Übrigens, nur dass sie Bescheid wissen, zukünftig erfolgt die Belegung der Dachgeschosswohnung nicht mehr über die reguläre Liste, sondern das wird umgewidmet zu einer Erasmus-Wohnung und wir entscheiden als Studentenwerk, wer dort einzieht‘“.

Das akzeptierten die Bewohner*innen der H9 nicht und verwalteten die Dachgeschosswohnung weiterhin selbst, woraufhin das Studentenwerk zahlreiche rechtliche Drohungen bis zur Exmatrikulation folgen ließ. Die Wohnrauminitiative organisierte eine öffentlichkeitswirksame Kampagne. Das ging gar so weit, dass die GRÜNE Fraktion der Stadt Göttingen Magull indirekt einen Rücktritt nahgelegte und ihm empfahl, er solle lieber Altenheime verwalten, weil dort nicht mit so viel politischem Widerstand zu rechnen sei. Sie sagten auch, Transparente gehören zu Göttingen genauso wie das Gänseliesel. Als das Studentenwerk beidrehte wurden wieder Verhandlungen aufgenommen.

Mit den Bewohner*innen der Humboldtallee 9 und dem Studentenwerk eskalierte der Streit.
Quelle: A. Fürniß

Die Bewohner*innen der H9 forderten dabei Vereinsverträge, also Kollektivmietverträge. „Das ist uns nicht gelungen, sondern wir haben dann was Ähnliches bekommen, also eine sehr starke Satzung und Selbstverwaltung. Fortan war dann sehr eindeutig geregelt, dass wir zukünftig auch wirklich formell bestimmen können, wer dort einzieht und wer nicht“, sagt Hauke dazu.

Um Kollektivmietverträge aufzusetzen, wird ein Verein benötigt, der das ganze Haus mietet und die einzelnen Untermietverhältnisse regelt. Im Fall der H9 wurde mit einer neuen Satzung Selbstverwaltung erkämpft: Dabei mieten alle Mieterinnen mit einzelnen Verträgen direkt beim Studentenwerk. Aber die Satzung sichert zu, dass die Bewohnerinnen formell bestimmen können, wer einzieht, und zwar über einen Belegungsausschuss. Das Problem, das die Bewohner*innen der H9 dabei aber sehen: Eine Satzung ist jederzeit einseitig durch einen Vorstandsbeschluss aufhebbar.

Anfang 2017 kündigte das Studentenwerk die Mietverträge mit drei der Bewohner*innen der Goßlerstraße 17/17a.
Quelle: A. Fürniß

Vor diesem Hintergrund ist auch der Konflikt zwischen dem Studentenwerk und den Studierenden aus dem Jahr 2017 zu verstehen: Zu Beginn des Jahres 2017 hat das Studentenwerk flächendeckend in allen Wohnheimen bzw. bei allen etwa 4400 Wohnheimsplätzen die Mieten um durchschnittlich 37 Euro erhöht. Ausgenommen waren dabei die Wohnheime mit Kollektivmietverträgen. Die in der Wohnrauminitiative organisierten und von den Mieterhöhungen betroffenen Wohnheime Humboldtallee 9, Bürgerstraße 50a und die Goßlerstraße 17/17a sowie einige große Wohnheime stellten sich dem entgegen. Jedoch gingen lediglich die drei genannten kleineren Wohnheime so weit, die neu angedachten Mietverträge nicht zu unterzeichnen, was die Bewohner*innen in den Zustand des Wohnens ohne geltenden Mietvertrag brachte. Daraufhin drohte das Studentenwerk mit Räumungsklagen, die es jedoch kurz darauf zur „Deeskalation“ wieder zurückzog. „Dadurch, dass wir uns wirklich kollektiv verweigert haben, haben wir glaube ich eine immense Stärke entfaltet und konnten herbeiführen, dass das Studentenwerk die Räumungsklageandrohung zurückgezogen hat“, so Hauke weiter.

Trotz der verhärteten Fronten nämlich lud das Studentenwerk dann im April 2017 die Bewohner*innen der Goßlerstraße 17/17a zu Verhandlungsgesprächen ein. Dabei forderten diese wie die H9 bereits im Konflikt 2014 kollektive Mietverträge, wie sie ein paar wenige selbstverwaltende Wohnheime auch haben. Diese Forderung wurde vom Studentenwerk zurückgewiesen. Prof. Magull, Chef des Studentenwerks, erklärt dies im Gespräch wie folgt:

„Wir haben 4.400 Wohnheimsplätze bei 32.000 Studierenden. Wir haben eine Warteschlange von über 2000 Leuten und wir müssen deshalb unser Vermietungsgeschäft selbst bestimmen dürfen. Deswegen gibt es ja auch bei uns acht Semester und dann haust der Nächste. Natürlich kann es sein, dass man in acht Semester mit seinem Studium nicht zu Ende ist, alles in Ordnung, aber wir müssen praktisch möglichst vielen Leuten die Möglichkeit geben, in einem vergünstigtem Wohnraum Wohnen zu dürfen. Allein wegen der sozialen Gerechtigkeit. Wir haben Kollektivmietverträge, wo die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Bewohner selbst aussuchen. Natürlich ist da aus prinzipiellen Gründen nicht möglich, dass das Studentenwerk entscheidet, wer da wohnt. Deshalb haben wir gesagt, wir schließen keine neuen Kollektivmietverträge mehr ab, Die alten, die bestehen, erhalten selbstverständlich ihre Gültigkeit.“

Chef des Göttinger Studentenwerks: Prof. Dr. Jörg Magull.
Quelle: (C) Wolf Schuchardt

So schnell Kollektivmietverträge vom Verhandlungstisch waren, so sehr drehte sich die Situation, berichtet mir Feli Schlang, Bewohnerin der Goßlerstraße 17/17a: „Dann haben sie quasi gegen Ende dieses Verhandlungstermins diese Möglichkeit überhaupt erstmal auf den Tisch gepackt. Wollt ihr nicht eventuell euer Haus kaufen?“ Nötig sei hierfür ein Verein, den die Bewohner*innen für beide Haushälften gründeten. In einem etwas längerem Prozess verständigten sich die Beteiligten auf ein Verfahren, das letztendlich im Dezember 2018 zum Abschluss beim Notar gekommen ist.

Nun wurde die OM10 besetzt, aufgekauft und dem Mietshäusersyndikat überführt, womit das Objekt letztlich dem Markt entzogen wurde. Die Nansen1 wurde besetzt, geräumt und anschließend privatisiert. Mit dem Hauskauf der Goßlerstraße 17/17a ist das Gebäude nicht gleich vom Markt genommen. Theoretisch könnten die Bewohner*innen, die jetzt Besitzer*innen sind, in einigen Jahren auch beschließen, das Haus wieder zu verkaufen. Aus eben diesem Grund war es der OM10 auch so wichtig, sich dem Syndikat anzuschließen, weil die Käufer*innen nach 15 oder 20 Jahren schließlich auch sagen könnten: War schön, aber wir verkaufen jetzt wieder. Magull sagte mir zu dieser Thematik: „Uns war es immer wichtig, dass der Verein, der es kauft, den Zweck hat, es für studentisches Wohnen zu nutzen. Letztendlich ist der Vertrag so zustande gekommen, dass er auch auf langer Frist ausgelegt ist.“

Doch wie? Dies konnte mir Feli genauer erklären: „Wir haben lange überlegt, ob wir das Haus mit dem Mietshäusersyndikat kaufen sollen oder nicht.“ Im Prinzip funktioniere das bei den Bewohner*innen der Goßlerstraße 17/17a ganz ähnlich wie im Mietshäusersyndikat, nur mit einer anderen juristischen Struktur: statt mit einer GmbH eben mit einem Verein. Um das Wohnobjekt vor einer Re-Privatisierung zu sichern, wurde ein Verkaufsverbot in die Satzung aufgenommen.

„Wir sind nicht in dem großen Syndikatsverbund, weil wir mit Leuten aus dem Syndikat gesprochen haben und die gesagt haben, dass sie mittlerweile einfach eine sehr große Struktur in Deutschland sind. Sie fänden es eigentlich begrüßenswert, wenn sich lokalere, kleinere, syndikatsähnliche Strukturen aufbauen und bilden, die vielleicht dann auch wieder mehr Bezug aufeinander haben.“, begründet Feli. Die Bewohner*innen haben sich gewissermaßen das Mietshäusersyndikat zum Vorbild genommen und streben perspektivisch an, sich mit anderen Wohnhäusern, die nach einer ähnlichen Vereinsstruktur arbeiten, syndikatsähnlich zusammenzuschließen. „Wir machen das nicht über das Syndikat, wir machen das über einen gemeinnützigen Verein, aber auch mit der Perspektive, dass sich in Göttingen eventuell noch mehr von den Häusern aufkaufen und wir dann quasi hier eine lokale Struktur hochziehen, die halt sehr syndikatsähnlich ist, die die gleichen Sicherheiten schafft oder die gleichen Zwecke verfolgt.“, so Feli.

In der eigenen Satzung sei somit ein Verkauf unterbunden. Reicht dies aus? Theoretisch könne per Mitgliederversammlung des Vereins dieser Punkt aus der Struktur verbannt werden, jedoch gibt es einen Vereinsbeirat, der das absichere. Feli dazu: „Das ist sowas wie eine externe Struktur, die bei Beschlüssen vetoberechtigt ist. Und da haben wir momentan sechs, sieben Beiratsmitglieder. Das sind drei Anwälte, und dann ist es die Hausgemeinschaft aus der Gutenbergstraße, das historische Colloquium, ein Hausverbund, der über einen gemeinnützigen Verein existiert und die OM10. Die stehen quasi bei uns in der Satzung so drin, dass sie bei gewissen Punkten Mitspracherecht haben oder deren Einverständnis eingeholt werden muss, damit dort Beschlüsse passieren können. Und die haben bei sich in den Satzungen wiederum stehen, wenn die Hausgemeinschaften in der Goßlerstraße sagt, sie wollen das Haus verkaufen, müssen wir mit einem Veto stimmen. Und darüber gibt es quasi eine Absicherung, also in unserer Satzung, aber auch in den ganzen Satzungen der anderen Häuser.“

Verhandlung mit weiteren Wohnheimen?

„Seitdem ist so ein bisschen eine neue Phase in der Auseinandersetzung zwischen kleinen Wohnheimen und dem Studentenwerk eingetreten, in der das Studentenwerk einen neuen Kurs eingeschlagen hat“, meint Hauke. „Jetzt ist es nämlich so, dass das erste Wohnheim sich gekauft hat vom Studentenwerk, also die Großlerstraße 17/17a hat über einen Trägerverein das Haus gekauft, und es gibt weitere Wohnheime, die mit dem Studentenwerk darüber verhandeln, ihr Haus zukaufen.“

Dies wird auch in einem Artikel der taz erwähnt und im Göttinger Tageblatt wird sogar konkret die Bürgerstraße 50a und möglicherweise Wohnheime der Roten Straße genannt. Im Interview mit Prof. Magull äußerte sich dieser: „Das, was im GT stand, war völlig verkehrt. Das war reine Erfindung des Journalisten. Wir haben in einer Presseerklärung dargelegt, und das können sie auch bei uns nachlesen, dass wir mit mehreren selbstverwaltenden Häusern über einen Verkauf sprechen.“ Auf Nachfrage wiederholte sich Magull sinngemäß: „Mit mehreren. Sehen Sie es mir nach. Ein Hauskaufprozess ist ein komplizierter Prozess und den möchte ich ungern stören. So ist es auch jeweils mit den Verhandlungspartnern verabredet.“ Auch Hauke aus der H9 konnte mir darüber keine Auskunft geben: „Teilweise gab es dazu Berichterstattungen, aber mitunter fehlerhaft, da hat das GT nicht gut recherchiert.“

Die Sanierungsarbeiten der Häuser der Roten Straße starten voraussichtlich Anfang April.
Quelle: A. Fürniß

Dem lässt sich ein kleines Gedankenspiel hinzufügen: Wenn ich Magulls Aussage ernst nehme, Grundvoraussetzung seien „selbstverwaltete Strukturen“, dann fallen einem die genannten Wohnheime ein sowie jene, die Kollektivmietverträge besitzen. Davon ist jedoch die H9 ausgenommen, weil diese gar nicht im Besitz des Studentenwerks ist, sondern der Universität. Und auch bei der Roten Straße dürfte dies ein wenig komplizierter sein, weil es sich dabei gleich um sechs Häuser handelt, die unter Denkmalschutz stehen. Eine zweite Grundvoraussetzung sei nach Magull ein Verein: „Nicht in allen selbstverwaltenden Häusern gibt es Vereine. Das heißt, die müssen sich unter Umständen erst mal auf den Weg machen, einen Verein zu gründen“. Eine verhältnismäßig kleine Hürde. Zudem fragte ich Magull, ob man in Aussicht stellen könne, wann diese Verhandlungen ihren Abschluss fänden: „Bei der Goßlerstraße hat das zwei Jahre gedauert. Und das hängt auch mit simplen Dingen zusammen. Die Notare haben im Augenblick einfach keine freien Termine, weil so viel Bewegung auf den Immobilienmarkt da ist.“ Ein Notar wird in der Regel aber erst aufgesucht, sobald der Hauskauf quasi in trockenen Tüchern ist. Da sich die Wohnheime der Roten Straße aktuell in Verhandlungen mit dem Studentenwerk über deren Sanierung befinden, halte ich es für unwahrscheinlich, dass sich die beiden Parteien dabei bereits auf einen Kaufpreis geeinigt haben, wenn ohnehin noch gehörige Uneinigkeit im Hinblick auf die Sanierungen und die rapiden Mietpreissteigerungen um 160% bestehen. Vielleicht ist aber am GT-Bericht bezüglich der Bürgerstraße 50a etwas dran, und es wird lediglich auf einen Termin mit dem Notar hingearbeitet. (Gedankenspiel-Ende)

Kauft sich die Bürgerstraße 50a ähnlich wie die Goßlerstraße 17/17a auf?
Quelle: A. Fürniß

Wieso ist mir das überhaupt wichtig? Wie viele kleine Wohnheime des Studentenwerks ist auch die Goßlerstraße 17/17a aus einer Besetzung entstanden. Zur zweiten Hälfte der 1970er und Anfang der 1980er, als in Göttingen eine massive Wohnungsnot herrschte, die noch bedeutend dramatischer war als heute, und gleichzeitig viele Häuser leerstanden, haben sich mehrere tausend Studierende und auch andere Menschen, die Wohnungen brauchten, dazu entschieden, Häuser zu besetzen und sich den zur Verfügung stehenden Wohnraum zu nehmen. Dazu gehörte neben der Goßlerstraße 17/17a auch die alte Augenklinik, das heutige Institut für Psychologie. Auch wenn die H9 nie besetzt war, entstand diese in ihrer heutigen Form im Kontext der Bewegung, die Teile des alten Klinikums-Geländes besetzte.

Städtebauforderungsprogramm „Soziale Stadt“ im Nordbereich der Innenstadt

Nun gibt es die Bauförderungsmaßnahme „Soziale Stadt“ in Niedersachsen. Auf der Webpage ist Folgendes zu entnehmen: „Mit dem Städtebauförderungsprogramm ‚Soziale Stadt‘ unterstützt der Bund seit 1999 die Stabilisierung und Aufwertung städtebaulich, wirtschaftlich und sozial benachteiligter und strukturschwacher Stadt- und Ortsteile. Städtebauliche Investitionen in das Wohnumfeld, in die Infrastrukturausstattung und in die Qualität des Wohnens sorgen für mehr Generationengerechtigkeit sowie Familienfreundlichkeit im Quartier und verbessern die Chancen der dort Lebenden auf Teilhabe und Integration. Ziel ist es, vor allem lebendige Nachbarschaften zu befördern und den sozialen Zusammenhalt zu stärken.“

Der nördliche Innenstadtbereich in Göttingen wurde Ende letzten Jahres dem Programm hinzugefügt. Mitten in diesem Gebiet befindet sich die OM10. Auch hierzu hatte ich die Gelegenheit, den Geografen Mießner um eine Einschätzung zu bitten: „In der nördlichen Innenstadt geht es um klare Aufwertungsmaßnahmen, die in dem Viertel stattfinden werden, und die werden mit Mietpreissteigerung verbunden sein. Da werden wir auch darüber reden müssen, dass sich Leute dort die Mieten nicht mehr leisten können und deshalb wegziehen müssen.“

Soziale Stadt meint, es soll eine sozialverträgliche Aufwertung passieren – insbesondere in den Quartieren, in denen benachteiligte Bevölkerungsgruppen stark vertreten sind. Jana Pasch, eine Kollegin von Mießner, macht darauf aufmerksam, dass es faktisch um eine Aufwertung von Quartieren geht, die immer auch mit Verdrängung einhergeht. Zudem geht es um eine Normsetzung, was eigentlich das richtige soziale Leben ist und was nicht.

Was würde dies aber konkret für das Quartier um den Waageplatz bedeuten? In diesem Bereich gibt es regelmäßig Beschwerden über Junkies, Alkoholikern und Jugendlichen. Man reagierte mit verstärkter Polizeipräsenz. Mießner meint dazu: „Das sind erste Vorzeichen dafür, dass es eine bestimmte Bevölkerungsgruppe gibt, denen andere Bevölkerungsschichten dort ein Dorn im Auge sind, die ein Interesse daran haben, dass einige Bevölkerungsgruppen aus dem öffentlichen Raum vertrieben werden.“ Susanne, Mitglied in der Finanzgruppe der OM10, problematisiert, dass dies in ihren Augen zur Kriminalisierung dieser Personengruppen führe und so das Programm „Soziale Stadt“ legitimiert werden solle. Zudem rege sie sich darüber auf, dass das Waageplatzforum als Hort der Bürgerbeteiligung keine echte Mitsprache garantiere und bezeichnet dies als „Makulatur, um die Leute ruhig zu stellen“. Jutta, ebenfalls in der Finanzgruppe aktiv und zudem Bewohnerin des Viertels, war auch in den öffentlichen Sitzungen vor Ort und pflichtet Susanne bei, dass es hauptsächlich um Beschwichtigung hinsichtlich der Sorgen der Anwohner*innen gehe.

Auf Anfrage für ein Interview zum Thema Hausbesetzungen in Göttingen war ein Gespräch mit Herrn Oberbürgermeister Köhler aus zeitlichen Gründen nicht möglich. Stattdessen traf ich mich mit Udo Trost, Fraktionsmitarbeiter der Linkspartei im Stadtrat. Dieser bestätigte mir, dass in der Unteren Maschstraße 13 letztes Jahr ein größerer Block von der Coreo Real Estate gekauft worden sei: „Die kaufen teilweise die Leute raus, sie bieten ihnen teilweise Ersatzwohnraum und bringen die raus. Wir wissen nicht, in welchem Zeitraum, aber das soll dieses Jahr noch leer sein. Und dann ist die Vorstellung von denen, dass sie es ‚edelsanieren‘ wollen.“ Dies ist unter dem Aspekt zu sehen, dass dort zu großen Teilen Menschen wohnen, die Transferleistungen beziehen.

Die Bewohner*innen der Untere-Masch-Straße 13 sind teils bereits ausgezogen. Das Objekt wird entkernt und saniert. Es ist mit erheblichen Preissteigerungen zu rechnen.
Quelle: A. Fürniß

Hinsichtlich der Pläne der Stadt Göttingen in Bezug auf die Stockleffmühle, ein 500 Jahre altes, stark renovierungsbedürftiges, denkmalgeschütztes Bauwerk süddeutschen Stils am Wageplatz, problematisiert Trost, dass Informationen über Identität und Konzept des hier interessierten Investors nur scheibchenweise und sehr unzureichend vom Oberbürgermeister kommuniziert wurden. Laut eines GT-Artikels sei es wahrscheinlich, dass in der Mühle eine Burger-Kette angesiedelt werde. Trost sieht hier eine klassische Aufwertung: „Die Leute, die dort leben, werden völlig außer Acht gelassen, die spielen da gar keine Rolle, sondern sie stören da vielleicht sogar eher. Und da wird dann ein künstliches Ding reingemacht und das passt überhaupt nicht in dieses Konzept, das die Stadt eigentlich anfängt, mit den Bewohnern zu erarbeiten.“ Trost bestätigt insofern Jutta und Susanne, als es im Kontext dieses geplanten Projekts an Transparenz und authentischen Partizipationsmöglichkeiten mangele.

Kommt in die alte Stockleff-Mühle, wie im GT vermutet wird, ein Burder-Laden?
Quelle: A. Fürniß
Stockleff-Mühle vom Waageplatz aus gesehen.
Quelle: A. Fürniß

Gentrifizierung in Grone?

Von einer relativ großflächigen Durchsanierung könnte man im Kontext dessen sprechen, was in Grone stattfinden wird. Mießner sagt: „Wo das wahrscheinlich in einem größeren Maßstab zu erwarten ist, sind die Bestände von Adler in Grone Süd mit über tausend Wohneinheiten. Dort werden in den nächsten drei Jahren mittels Sanierungen Mietpreissteigerungen von zwei Euro [pro Quadratmeter] durchgesetzt. Das wird zu einem Problem für die Menschen, die dort wohnen. Und es besteht die Gefahr, dass sie nirgendwo anders in Göttingen Wohnungen finden werden.“ Trost betonte den Ernst der Lage. Die Adler Real Estate hat konkret Baumaßnahmen dieser beiden Gebäudekomplexe in Grone Nord und in Grone Süd in Planung, bei denen es um Fassadendämmung, die Erweiterung der vorhandenen Balkone und den Einbau von Fahrstühlen dort geht, wo Häuser aufgestockt werden. Eine Broschüre des Vereins für interkulturelle Nachbarschaft in Grone e.V. enthält eine Beispielrechnung, nach der die Kaltmiete einer 86 Quadratmeter-Wohnung um 129 Euro steigen wird. Vor dem Hintergrund, dass dort viele sozioökonomisch schlechter gestellte Menschen wohnen, ist das Vorhaben existenzbedrohend.

Resümee

Längst ist die Frage um Wohnraum nicht mehr nur ein Problem des unteren Drittels unserer Gesellschaft, sondern wird auch zunehmend zu einem der Mitte. Wir haben es in Göttingen mit einer ambivalenten Wohnmarktsituation zu tun, in der viele Faktoren berücksichtig werden müssen. Mießner findet zwar, dass wir es in Göttingen weniger mit harten Gentrifizierungsprozessen zu tun haben, als man es aus den Großstädten kennt. Jedoch werden die Bewohner*innen in Grone Nord und Süd womöglich aus ihren Wohnungen verdrängt werden. Ähnliches, aber nicht in so drastischen Zügen, wird in der Untere-Masch-Straße 13 geschehen. Was dies für das soziale Leben dort bedeuten wird, ist noch nicht abzusehen. Die OM10 hat zumindest gezeigt, dass eine Hausbesetzung als Möglichkeit, Leerstand sinnvoll zu nutzen, erfolgreich sein kann. Die Besetzung der Nansen1 ist als eine politische Reaktion auf die Besetzung in der OM10 zu verstehen, da sie von einem ähnlichen humanitären Standpunkt ausging. Beide Besetzungen fanden jedoch unter sehr verschiedenen Umständen statt. Die OM10 hatte im Sommer der Migration einen enormen gesellschaftlichen Rückhalt und weit über die Stadtgrenzen hinaus seine Wirkung entfalten können. Zudem ist auf den DGB erheblich anders einzuwirken als auf ein Wohnheim, das offensichtlich privatisiert werden soll. Die OM10 lebt, die Nansen1 wurde geräumt und steht seitdem immer noch leer. Der Kampf der Studierenden um den Erhalt ihrer Wohnhäuser ist vor dem Hintergrund der Besetzungen der 70er/80er zu verstehen. Auch wenn die Bewohner*innen der selbstverwaltenden Wohnheime de facto längst keine Besetzer*innen mehr sind, hat sich gezeigt, dass die Überführung der OM10 in das Mietshäuser Syndikat Signalwirkung entfalten konnte. Letztes Jahr wurde die Wiesenstraße 28 ebenfalls in das Syndikat überführt. Die selbstverwaltenden Wohnheime fühlen sich vom Syndikat inspiriert und haben etwas Ähnliches vor. Dabei bestand stets ein Wissenstransfer zwischen der OM10 und anderen Wohnprojekten oder gar Überschneidungen in den Strukturen.

Nachtrag: Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Abschlussmoduls bei der ZESS in Göttingen und wurde zum 19. März eingereicht. Anfang April wurde bekannt, dass das Studentenwerk und die BewohnerInnen der Wohnheime Rote Straße 1-5 und der Burgstraße 52 neue Mietverträge geschlossen haben.