Julian und Pia studieren mit studienrelevanter Barriere. Um zu zeigen, was das für sie bedeutet, geben sie einen Einblick in ihren Unialltag.

Es ist ein grauer, kalter Tag Ende Januar. Die Schlange an der Mensa am Turm der Uni Göttingen ist trotz Regen so lang, dass Studierende aus dem Gebäude hinaus einige Meter auf dem Gehweg anstehen. Irgendwo in der Schlange befindet sich Julian. Der 24-jährige Jurastudent hebt sich auf den ersten Blick von den anderen in der Schlange ab, denn Julian sitzt im Rollstuhl. Damit gehört er zu den knapp elf Prozent der Studierenden seiner Uni, die eine studienrelevante Beeinträchtigung haben. Deutschlandweit sind es laut des Deutschen Studierendenwerks sogar rund 16 Prozent. Auf seinen Rollstuhl reduziert werden will Julian nicht. Aber er will darüber sprechen, wo für ihn im Unialltag Barrieren bestehen. „Das sind besonders die Räumlichkeiten“, erzählt Julian, als sich die Schlange weiter Richtung Essensausgabe bewegt. „Im ZHG gibt es eigentlich nur einen Hörsaal, den 011, in dem ich problemlos einen Platz habe. In allen anderen Hörsälen muss mir jemand einen Tisch in die erste Reihe stellen.“ Als besondere Belastung empfinde er auch die Zugänglichkeit zu den Hörsälen des ZHGs, die sich im ersten Stock des Gebäudes befinden. Um diese zu erreichen, müsse er einen der Fahrstühle im Blauen Turm nutzen. Ein regelmäßiger, aber unumgänglicher Umweg, der durch die Koordination der Fahrstühle auch häufig mit Wartezeiten verbunden ist. 

Bauliche Barrieren beeinträchtigen Julians Alltag, so hier die Treppe im Café Central. Foto: Johanna Sander

„Den krassesten Umweg musste ich nehmen, als ich eine Vorlesung im Med 23, einem Hörsaal in der Humboldt-Allee, hatte. Der Hörsaal ist offiziell nur über Treppen erreichbar. Ich musste immer durch das Nebengebäude, mit dem Fahrstuhl in den Keller und von dort durch einen unrenovierten Flur durch die Hintertür.“ Zwar habe sich sein Dozent bemüht, den Raum zu wechseln, das habe aber leider nicht funktioniert. „Dabei könnte es so einfach sein“, sagt Julian. Er hat eine Idee, wie die Uni solche Barrieren vermeiden könnte. „Es wäre super, wenn es eine Funktion gäbe, bei der ich bei der Kursanmeldung einfach angeben könnte, dass ich im Rollstuhl sitze. Dann könnte das bei der Raumbuchung berücksichtigt werden.“

Unsichtbare Barrieren

Dass Julians Barriere auf den ersten Blick zu erkennen ist, stellt nach Aussagen der Beauftragten für Studium und Barriere eine Ausnahme dar. Bei fast 96 Prozent der Studierenden mit Barriere, das heißt mit Behinderung oder chronischer Krankheit, sei die Beeinträchtigung nicht von vornherein wahrnehmbar.

Das ist auch bei Pia so. Pia ist ebenfalls 24. Sie studiert Molekulare Medizin und hat Narkolepsie, eine chronische Krankheit. Pia steht in ihrer Küche und schneidet Gemüse, als sie davon erzählt, was die Krankheit für sie bedeutet. „Ich bin häufig müde, vor allem bei monotonen Tätigkeiten wie Zug fahren. Das war schon immer so.“ Dass etwas nicht stimme, habe sie erst während des ersten Corona-Lockdowns gemerkt. „Ich bin bei jeder Onlinevorlesung eingeschlafen, obwohl ich eigentlich in der Nacht genügend geschlafen habe,“ erinnert sie sich. „Kurz vor meiner Diagnose wurde es so schlimm, dass sich meine Müdigkeit sogar beim Schreiben von langen Nachrichten durchgesetzt hat.“ 

Durch eine Freundin, die zu dieser Zeit eine Reportage zum Thema geschaut hatte, sei Pia auf Narkolepsie gekommen. „Ich musste zwei Tage und eine Nacht in einem Schlaflabor verbringen, bevor ich dann 2021 die endgültige Diagnose erhielt.“

Julian ist bei der Essensausgabe angekommen. Ein Schälchen Pommes, eines mit Salat und ein Teller vegane Nuggets schmücken sein Tablett. Nach dem Bezahlen an der Kasse füllen die meisten noch einen Becher mit kostenlosem Mineralwasser. Für Julian befinden sich die Zapfhähne zu weit oben. Er muss seine Freund*innen bitten, ihm etwas mitzubringen. Jetzt geht es an die Sitzplatzsuche. Die Mensa ist voll, die meisten Tische belegt. Julians Freund*innen drängen sich durch die Gänge, kommen kopfschüttelnd zurück. Freie Plätze gibt es nur noch auf der kleinen Erhöhung. Eine Stufe, die für Julian unüberwindbar ist. Bisher haben sie immer einen Platz gefunden, die Auswahl ist nur kleiner, die Wartezeit ein bisschen länger. 

Während Julian sein Essen schon auf dem Tablett hat, muss sich Pia in ihrer Küche noch gedulden. In der Zwischenzeit erzählt sie weiter. Narkolepsie sei eine wenig erforschte und schwer therapierbare Krankheit. Pia habe vor ihrer Diagnose häufig von Fällen gehört, in denen Narkolepsie als Schwerbehinderung eingestuft wurde und zu einer Erwerbsunfähigkeit führte. Zwar habe sie selbst noch einen relativ milden Verlauf, die Diagnose habe ihr aber gerade im Hinblick auf die unsichere Prognose damals sehr zugesetzt. „Ich hatte große berufliche Ambitionen und habe zu diesem Zeitpunkt eine Forschungskarriere im Labor angestrebt. Spätestens als einer meiner damaligen Professoren Bedenken äußerte und sich gegen meine weitere Teilnahme an chemischenLaborpraktika aussprach, wusste ich: Das wird nichts.“ Zum Glück habe sie zu diesem Zeitpunkt schon alle Pflichtpraktika hinter sich gehabt. Und einen Plan B in der Tasche, den sie gerade umsetzt. „Ich belege gerade ein paar Physikkurse, um einen Master in Physik machen zu können,“ erzählt sie lächelnd, während sie das bunte Gemüse in einen Topf gibt. 

Zurück in der Turmmensa. Beim Essen erzählt Julian von seinen anstehenden Prüfungen für das erste juristische Staatsexamen. Sechs fünfstündige Klausuren innerhalb von weniger als zwei Wochen muss er schreiben, und das bereits in ein paar Tagen. Dafür hat er einen Nachteilsausgleich bekommen. 15 Minuten extra Zeit für Toilettenbesuche. Eigentlich zu wenig, wie er findet. „Wenn ich mich ganz doll beeile, kann ich damit höchstens zweimal auf die Toilette gehen,“ erklärt er. Zwar müsste das für fünf Stunden reichen, diese Begrenzung setze ihn jedoch unter Druck. „Wahrscheinlich werde ich einfach weniger trinken, um kein Risiko einzugehen“, sagt er. 

Die Verfügbarkeit von Behinderten-WCs sei auch auf dem Zentralcampus keineswegs ideal. Im ZHG zum Beispiel gebe es gerade mal zwei, in der SUB nur ein einziges. „Und das für ein so großes Gebäude!“ Für Julian bedeutet das häufig längere Wege und einen erhöhten Zeitaufwand. 

Julian und seine Freund*innen wollen noch einen Kaffee im Café Central trinken. Hier befindet sich für Julian das wahrscheinlich größte Hindernis auf dem ganzen Campus. Denn der Verkaufsraum des Cafés ist nur über Treppenstufen zu erreichen. Dasselbe gilt für den Großteil der Sitzgelegenheiten. „Wenn ich hier etwas kaufen möchte, könnte ich auf diesen Knopf drücken.“ Julian zeigt auf einen kleinen, unscheinbaren Knopf an der Wand. „Dann sollte theoretisch eine Mitarbeiterin des Cafés zu mir kommen, um mir zu helfen,“ erläutert er. Allerdings habe er diese Möglichkeit erst ein einziges Mal wahrnehmen wollen. Und da habe der Knopf leider nicht funktioniert. „So wohl fühle ich mich damit sowieso nicht. Es gibt mir das Gefühl, bedürftiger zu sein, als ich eigentlich bin.“ Besser, als Barrieren durch die Hilfe anderer kaschieren zu wollen, sei es, sie wirklich abzubauen. Zum Beispiel durch Rampen, oder durch die Schaffung eines Verkaufsraums, der nicht nur durch Treppen zugänglich sei. 

Die Klingel im Café Central drückt Julian nur ungern. Foto: Johanna Sander

Julians Forderung wird auch vom Deutschen Studierendenwerk gestellt. So könne man zeitaufwendige Einzelregelungen ersparen, würde den Betroffenen mehr Selbstständigkeit ermöglichen und alle an den Vorteilen des Wegfalls der Hürde teilhaben lassen. Der aktive Abbau von Barrieren im universitären Raum sei so wichtig, weil der Zugang zu akademischer Bildung noch immer durch beispielsweise bauliche, didaktische, aber auch strukturelle Barrieren erschwert werde.

In Pias Küche köchelt das Essen auf dem Herd langsam vor sich hin. Pia erzählt von ihrem Alltag seit der Diagnose. „Ich muss zwei Mal am Tag Medikamente nehmen, die mich aufputschen sollen. Dadurch kriege ich den Alltag, manchmal mit ein paar kleinen Schlafpausen zwischendurch, manchmal sogar ohne, ganz gut bewältigt.“ Außerdem helfe ihr der Austausch mit anderen Betroffenen. „Ich habe eine Gruppe in Northeim gefunden, in der wir uns gegenseitig von allem rund um die Krankheit berichten können. In der Gruppe sind auch zwei Studentinnen aus Göttingen, mit denen der Austausch besonders gut tut.“ In der Gruppe habe Pia auch kleine Tipps und Tricks gegen die Müdigkeit in ihrem Alltag gelernt. Bewegung zwischendurch und bewusste Entspannung vorm Schlafengehen seien für sie besonders hilfreich. Trotzdem ist und bleibt die Müdigkeit ein großer, unberechenbarer Faktor in Pias Leben. Auch in Vorlesungen in Präsenz fällt es ihr schwer, 90 Minuten lang konzentriert zuzuhören. „Es gibt kaum Vorlesungen, in denen ich nicht einschlafe. Und selbst wenn ich körperlich wach bleibe, bin ich geistig manchmal so abwesend, dass ich undeutliche oder falsche Notizen mache,“ erzählt sie. 

Barrieren gemeinsam überwinden

Videoaufzeichnungen von Vorlesungen oder das Bereitstellen von Lehrmaterialien wie Folien oder Skripten würden ihr helfen, den Stoff in ihrem Tempo nacharbeiten zu können. „Ich habe schon öfter mal nach Lehrmaterialien gefragt. Leider wollen sich manche Profs in dieser Hinsicht nichts sagen lassen. Aber es gibt auch immer wieder andere Studierende, die meine Krankheit nicht ernst nehmen.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Dafür habe ich einen Nachteilsausgleich, der die Verlängerung von Klausurzeiten beinhaltet. Bei der Beantragung dafür hat mir vor allem die Beauftragte für Barrierefreiheit der Uni sehr weitergeholfen.“ Trotzdem wünscht sie sich vor allem von den Lehrenden mehr Kompromissbereitschaft. „Für sie ist es meist so wenig Aufwand, der für mich einen riesigen Unterschied macht.“

Auch Julian sieht noch viel Handlungsbedarf dabei, die für ihn und die anderen Studierenden mit Mobilitätsbehinderung bestehenden Barrieren abzubauen. Ins Juridicum, die Bibliothek seiner Fakultät, in der er seit der Vorbereitung auf das Examen regelmäßig lerne, sei nur schwer zugänglich. „Ich habe eine Karte, mit der ich über den Nebeneingang in die Bib hineinkomme. Das Kartenlesegerät hängt für mich aber ein bisschen zu weit oben und manchmal steht auch etwas davor. Außerdem muss ich die Karte jedes Semester verlängern.“ 

Es habe sich jedoch seit seinem Studienbeginn im Wintersemester 2018 schon einiges getan. Im LSG und in der SUB nutze er häufig Räume mit höhenverstellbaren Schreibtischen, die exklusiv für Rollstuhlfahrer*innen buchbar seien. Die Hörsäle im ersten Stock des ZHG sowie die Bibliothek im 13. Stock des Blauen Turms werden nun auch rollstuhlgerecht ausgebaut. Änderungen, die für Julian, der am Ende seines Studiums steht, wenig Relevanz haben, über die er sich jedoch trotzdem freut. „Besser spät als nie!“