Es ist ein Wochenende im Januar. Graue Wolken schieben sich über den Himmel. Die grüne Holzfassade des Hausprojektes „Grünes Haus anner Ecke“ sticht aus dem gewöhnlichen Stadtbild hervor und zieht die neugierigen Blicke vorbeilaufender Passanten auf sich. Die Fenster wirken schief. Auf dem Dach hebt sich die Solarthermieanlage dunkel von den roten Ziegeln ab. Zwischen den mittleren Fenstern im Erdgeschoss ist ein gelbes „X“ befestigt. Am Balkon weht ein bemaltes Banner. Wer sich auf dem schmalen Pflasterweg an den abgestellten Fahrrädern vorbei bewegt, gelangt zur Haustür. Beim Öffnen knarzt sie laut. Drinnen führen ein paar Stufen auf die Baustelle im Erdgeschoss. Die Böden sind mit dicker Folie ausgelegt und die Wände mit Lehm verputzt und gestrichen. Die Farbtöne erinnern an Kies und Sand. Leuchten gelb oder rot. Die Holztüren im Landhausstil hängen in windschiefen Holzrahmen. Aus dem Keller kriecht die Kälte von draußen empor.

In einem Nebenraum surrt ein Akkuschrauber. Baustellenstrahler auf einem Stativ spenden Henrik zusätzliches Licht bei seiner Arbeit. Er ist bekleidet mit dunkler Freizeitkleidung und Turnschuhen. Seine Haare sind zum Dutt zurückgebunden. „Ich versuche eine Platte an den Türrahmen zu befestigen, damit wir danach den Türrahmen mit Dämmstoff befüllen können.“, erklärte er. Der Durchgang, der zwei Zimmer miteinander verbindet, soll verschwinden und aus Lärmschutzgründen mit Holzfaserplatten gedämmt werden. Henrik ist zum Studieren nach Göttingen gekommen. Seit fünf Monaten wohnt er im Grünen Haus. Seine letzte Vermieterin hat häufig die Miete erhöht. „Hier wird so viel Miete gezahlt wie auch nötig ist und das Geld geht dahin, wo es gebraucht wird.“, betont er und schiebt nach: „Es bereichert sich niemand daran.“ Die Hausbewohner*innen müssen ihre Arbeitszeit auf der Baustelle in ihren Alltag integrieren. Fünf Wochenstunden sollen nach Möglichkeit in Baustelle oder Hausverwaltung pro Person gesteckt werden. „Handwerkliche Erfahrungen sind nicht nötig.“, sagt Henrik: „Hier kann man lernen und Fehler machen.“ Idealerweise helfen sich die Menschen im Grünen Haus gegenseitig und geben ihr Wissen weiter oder eignen sich handwerkliche Fähigkeiten in Kleingruppen an.

Baustellenstrahler erhellen die Innenräume | Foto: Florian Kubas

Zwei Räume weiter hockt Marie. Sie trägt einen roten Pullover und blaue Jeans. Der Baustellenstrahler wirft ihren Schatten an die Wand hinter ihr. Mit Cuttermesser und Zange bewaffnet entfernt sie alte Teppichreste vom Boden. Ein neuer Bodenbelag soll gelegt werden. Der Raum ist geteilt und aus der Zwischenwand wurden die oberen zwei Drittel des Fachwerks freigelegt. Das dunkle Holz taucht das Zimmer in ein rustikales Ambiente. Marie wohnt seit einem Jahr hier. Studiert Kulturelle Musikwissenschaften. Als sie auf Wohnungssuche war, spazierte sie zufällig am Grünen Haus vorbei und begeisterte sich sofort für den Anblick des Hauses. Ihre Neugier auf das Hausprojekt war geweckt. Die insgesamt zehn Bewohner*innen organisieren sich aktuell in drei Wohngemeinschaften. Die Etage auf der jeweils gebaut wird bleibt unbewohnt. Nach Abschluss der Sanierung sollen 15 Menschen im Haus Platz finden. Wöchentlich gibt es Treffen. Sogenannte Plena. Auf dem Plenum werden die Themen, die den Menschen im Haus wichtig sind, angesprochen und diskutiert. „Dabei haben alle das gleiche Mitspracherecht.“, führt Marie aus: „Bedenken werden berücksichtigt und es wird versucht einen Konsens zu finden.“ Überhaupt ist es ihr wichtig den großen Zusammenhalt in der Gruppe zu betonen: „Wir ziehen an einem Strang. Es wird versucht die Wünsche und Bedürfnisse von allen mit einzubeziehen. Und bei Problemen oder Konflikten suchen wir gemeinsam nach Lösungen.“

Hier wurde das alte Fachwerk wieder freigelegt | Foto: Florian Kubas

Das Mietshäuser Syndikat (MHS) ist eine Organisation, die deutschlandweit mittlerweile über 170 Hausprojekte und -Initiativen verbindet. Gemeinsames Ziel ist die Schaffung von solidarischen und gemeinwohlorientierten Wohnperspektiven: Häuser werden entprivatisiert und in Gemeineigentum umgewandelt. Dabei verwalten sich die Hausprojekte selbst und sind in ihren Entscheidungen frei. Allerdings erhält das MHS durch seine Beteiligung an den Hausprojekten im Verbund ein Vetorecht bei Hausverkäufen und kann so eine mögliche Reprivatisierung der Häuser verhindern. Um diese Ziele sicherzustellen, braucht es eine stabile Rechtsform. Der Eigentumstitel eines Hausprojekts liegt bei einer Haus-Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Diese Haus-GmbH wiederum hat genau zwei Gesellschafter*innen mit jeweils genau einer Stimme: Zum einen der Haus-Verein, in dem die Bewohner*innen des Hauses Mitglied sind, und zum anderen die MHS-GmbH. Das Stimmrecht des MHS ist aber auf wenige Entscheidungen, wie Hausverkauf und Satzungsänderungen, beschränkt. Bei allen anderen Fragen hat der Haus-Verein alleiniges Stimmrecht und kann zum Beispiel entscheiden wie hoch die Mieten sind oder ob und wie umgebaut wird. Sollte ein Hausverein seine Gesellschaftsbeteiligung kündigen und aussteigen, bleibt das Haus im MHS-Verbund. Auch eine finanzielle Bereicherung der Vereinsmitglieder oder eine mögliche „feindliche Übernahme“ sind im Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen.

Das kleine Badezimmer ist innenliegend. Oberlichter spenden etwas Tageslicht. Zusammen mit den blauen wabenförmigen Fliesen und den in den Wandputz befestigten Muscheln, ergibt sich das Bild eines Ostseeurlaubes. Auf einem klappbaren Tritt steht Daniel. In seiner Hand ein Schraubendreher. Er trägt eine schwarze Arbeitshose und einen blauen Pullover mit Farbklecksen als er nahe der Zimmerdecke den Entlüftungsventilator einbaut. „Ich bin Physiker, wohne seit 2006 hier in der Wiesenstraße und habe das Hausprojekt als solches mitgegründet.“, stellt er sich vor. Es war im Herbst 2016 als die damaligen Mietparteien bemerkten, dass Kaufinteressenten das Haus fotografierten. „Das ist uns damals eigentlich nicht vorgekommen im Gegensatz zu heute.“, holt er aus: „Und die alte Eigentümerin hat ein Wertgutachten vom Haus anfertigen lassen.“ Daraufhin haben die Mietenden überlegt, wie sie den Hausverkauf verhindern könnten und sind auf das Modell des MHS gestoßen. Daniel steigt den Tritt hinab. Setzt sich darauf. Das Konzept der „Eigentumsneutralisation“ hat ihn überzeugt und, dass das Haus praktisch immer den Menschen gehört, die darin wohnen. Die Eigentümerin spielte mit. Anfang 2018 wurde der Kaufvertrag unterschrieben. „Gleich im ersten Sommer nach dem Kauf wurde die Wärmedämmung vom Dach und von der Außenfassade umgesetzt, im gleichen Zug wurde die alte Gasheizung durch einen neuen Brennwertkessel ersetzt und wir haben die dann auch ergänzt um eine Solarthermieanlage.“, fängt er an aufzuzählen: „Und die andere Sache, die ganz schnell klar war, war, dass die Elektrik im gesamten Haus neu gemacht werden muss. Und dann hat sich herausgestellt, dass der Putz alt und bröckelig war und nur noch durch die Tapete zusammengehalten wurde.“

Neu gestaltetes Badezimmer mit Oberlichtern | Foto: Florian Kubas

Online dazugeschaltet ist Susanne. Kurz Su. Von Anfang 2018 bis Ende 2020 wohnte sie im Grünen Haus. Heute sitzt sie im Arbeitszimmer ihrer Oma. Die Verbindung mäßig. Plötzlich springt sie auf, um noch schnell das Ladekabel zu holen. Dann nimmt ihr Kopf den Bildschirm wieder ein. Auf ihrer Nase sitzt eine Brille. Blaues Gestell. Ein breites Grinsen im Gesicht. Damals hat sie im Jugendzentrum gekocht. Menschen aus dem Grünen Haus sind auch dort gewesen. „Da wurde ich gefragt, ob ich Lust hätte ein Hausprojekt mitzugründen und da habe ich gesagt: Ja klar!“, erzählt sie freudestrahlend. Sie fasst sich an die Stirn und kommt ins Grübeln, während sie aufzählt, was in der Gründungsphase wichtig war: Finanzierung, Zustand des Hauses, zeitliche Planung. Aber auch: Welches Mietmodell wird angestrebt, wie hoch soll die Miete sein und wie soll die Miete im Haus verteilt werden? „Es ging auch viel um sich gegenseitig kennenlernen. Wer sind wir und was wollen wir? Und als was für ein Projekt begreifen wir uns?“, schließt sie ab. Ihre Familie war am Anfang sehr skeptisch: „Sie konnten nicht verstehen, warum ich mit Anfang 20 meinte ein Haus kaufen zu müssen und warum man sich an einen Ort binden will. Es wurde falsch verstanden, dass man sich mit einem Anteil einkaufen würde.“ Doch der Vorteil des MHS ist: Menschen im Haus sind nicht finanziell beteiligt. Es gibt keinerlei Ansprüche an Auszahlung beim Auszug und umgekehrt keine Einlage beim Einzug. Su kann das MHS-Konzept weiterempfehlen, jedoch sagt sie: „Das MHS ist über die Jahre extrem gewachsen und große Organisationen haben das Potential träge zu werden.“

„Mir ist gemeinschaftliches Wohnen sehr wichtig.“

Su

Alle Menschen im Grünen Haus verbindet das Bedürfnis nach gemeinschaftlichem Wohnen. Sie bereichern sich gegenseitig. Lernen voneinander. Helfen sich im Alltag und auf der Baustelle. Sowohl handwerklich als auch zwischenmenschlich. Es kann auch mal krachen und Probleme geben. Aber dann raufen sie sich zusammen und suchen gemeinsam nach Lösungen. Ihren Wohnraum können sie sich nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Niemand redet ihnen rein. Und: Die Arbeit geht nicht aus. Nach Abschluss der Bauarbeiten im Erdgeschoss, wartet die Sanierung der mittleren Etage, der Dachbodenausbau und die Gestaltung des Gartens.