In den Straßen sind noch die Überreste der Neujahrsnacht zu sehen, es regnet unaufhaltsam, und über die Gehwege von Eschwege, einer Kleinstadt im nordhessischen „Werra-Meißner-Kreis“, weht ein rauer Wind. Insgesamt lädt dieser graue Januartag wirklich nicht dazu ein, einen Fuß vor die Haustür zu setzen. Und während die meisten Bürgersteige der Stadt deshalb tatsächlich menschenleer bleiben, herrscht an einem Ort in Eschwege reges Treiben. Genauer gesagt: Rund um das Gebäude eines ehemaligen Supermarktes in der sogenannten „Neustadt“ von Eschwege. Hier ist seit Ende des letzten Jahres neues Leben eingekehrt – zumindest immer dann, wenn die Gruppe Eschwege hilft wieder ihre Türen für alle Interessierten öffnet.
Und so gibt es auch für mich heute keine Ausreden. Denn für diesen Mittwochnachmittag habe ich mich mit den Organisatoren von Eschwege hilft verabredet, um mehr über die Gruppe zu erfahren.

Der Uhrzeiger steht bei etwa 15:30 als ich das Gebäude in der Mauerstraße erreiche und mein Auto auf einem nahen Parkplatz abstelle. Zwischen den Fassaden der alten Fachwerkhäuser, die sich dicht an dicht in den Straßen rund um das Gebäude drängen, sticht der rechteckige Betonklotz wie ein weißer Felsen heraus. Ich solle zur Rückseite des Gebäudes kommen hatten mir die Verantwortlichen im Voraus gesagt. Von dort würde ich den Eingang gleich sehen können. Und tatsächlich: Als ich den Hof hinter dem Haus betrete, weist mir bereits ein Banner mit der Aufschrift „Eingang Sammelstelle“ den Weg zu einer schweren Stahltür.

Ein Supermarkt voller Spenden

Früher wurden durch diese Tür die verschiedenen Waren für den Supermarktbetrieb angeliefert – Seit November des letzten Jahres finden nun allerlei Spenden ihren Weg durch denselben Eingang.
Denn hinter dem Namen „Eschwege hilft“ steht eine Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kleider- und Sachspenden für geflüchtete Menschen in der Region zu sammeln. Mit diesem ersten Mittwoch im Jahr öffnet die Gruppe wieder die Sammelstelle für alle, die helfen, etwas spenden oder sich über die Arbeit vor Ort informieren wollen. Jeden Mittwoch und Freitag können alle Interessierten deshalb von 15-18 Uhr, jeden Samstag von 11-14 Uhr bei der Hilfegruppe vorbeischauen und ihre Spenden abgeben oder auch selber tätig werden.

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Weil sich meine Verabredung zur Zeit meiner Ankunft noch in einer Besprechung befindet, muss ich mich noch etwas gedulden. Diese Zeit ermöglicht es mir aber, mich erst einmal im Gebäude umzusehen. Das kalte Licht der Neonröhren, die früher die Produkte des Marktes ausgeleuchtet haben, taucht nun die Sammelstelle in ein helles Licht. Und auch sonst begegnen mir beim Rundgang durch das Gebäude an vielen Ecken Relikte aus der Zeit des Supermarktes: Während an einer Wand noch die Werbetafeln großer Boulevard- und Tageszeitungen leuchten, verwaist auf der Gegenseite die Bedientheke einer Fleischerei, die früher im Markt beheimatet war. Letztendlich sind es aber wohl die drei großen Regalreihen in der Mitte des Raumes, die meine Illusion eines Supermarktes am Leben erhalten.

Der Arbeitstag in der Sammelstelle

Dass dieser Vergleich schnell zu den Akten gelegt werden kann, wird mir klar, nachdem ich mehr über die Struktur der Gruppe erfahre. Denn anders als es im Lebensmittelgeschäft der Fall gewesen war, wird hier schon lange kein Geld mehr umgesetzt. Die Kleidungstücke, die nun im Gebäude gelagert und sortiert werden, spenden zumeist Privatpersonen oder lokale Gruppen. Gelegentlich erreichen aber auch Großspenden von Firmen oder Verbänden die Sammelstelle, wie ich von einem Helfer erfahre. Dann sei „immer besonders viel zu tun“, wie mir ein junger Mann berichtet.
Zudem arbeiten alle Helferinnen und Helfer, die heute in die Sammelstelle gekommen sind, unentgeltlich. Wie so viele Initiativen in Deutschland, die sich die Unterstützung von Geflüchteten auf die Fahnen geschrieben haben, wird auch Eschwege hilft ausschließlich durch das Ehrenamt getragen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man schon bei dem ersten Treffen im November dabei war, oder erst jetzt auf die Gruppe aufmerksam geworden ist. Denn Eschwege hilft ist kein eingetragener Verein, der ein Mitgliederregister oder andere Formalitäten aufweisen kann. Stattdessen möchte die Gruppe möglichst frei von Bürokratie und Hierarchien bleiben – Das war allen von Anfang an wichtig und soll sich deshalb auch in Zukunft nicht ändern.

Nachdem ich mir einen ersten Eindruck verschafft habe, wird es Zeit, mich auch mit den Arbeitsabläufen der Helferinnen und Helfern vertraut zu machen. Meine Ansprechpartner hierfür finde ich direkt am Eingang zur Sammelstelle. Etwa 20 Männer und Frauen stehen dicht gedrängt an einer langen Reihe von Tischen. Vor Ihnen ausgebreitet: Schuhe, Hosen, Jacken oder Pullover in allen Farben und Größen.
Gerade in den letzten Wochen vor Weihnachten sei die Spendenbereitschaft unter den Menschen besonders groß gewesen, erfahre ich von einer Helferin. „Ist einiges liegen geblieben über den Jahreswechsel“ verrät sie mir mit einem Lachen und verweist auf einen großen Berg aus Kartons, Kleidersäcken und Kisten, der sich in einer Ecke neben dem Eingang auftürmt. Über die Dauer meines Besuches wird sich dieser Berg stetig verkleinern und am Ende der Öffnungszeit um 18 Uhr völlig in Luft aufgelöst haben.

Wohin geht Kleidung?

Dann werden alle Spenden den gleichen Weg gegangen sein, wie schon tausende Stücke vor ihnen. Praktisch bedeutet dies, dass alle Kleidungsstücke zuerst von den Helfenden begutachtet werden müssen. Kaputte, zerrissene oder löchrige Kleidung wird aussortiert. Verschmutzte in die Wäsche gegeben. Außerdem landet Kleidung, die für die warmen Monate im Sommer bestimmt ist, erst einmal in einem separaten Lagerraum abseits der Sammelstelle.
Danach sortieren die Helfer die geeignete Kleidung nach den jeweiligen Größen und räumen sie in die vorgesehenen Regale ein. Drei Regalreihen, jede etwa 50 Meter lang, bilden das „Herzstück“ der Sammelstelle und bieten auf hunderten Regalmetern Platz für etliche Paar Schuhe, Stapel von Pullovern oder Kisten mit Mützen und Handschuhen für die kalten Wintermonate.

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Wie lang die Stücke dann auf ihren angestammten Plätzen bleiben, entscheidet die Nachfrage aus den Geflüchtetenunterkünften in der Region. Ein Großteil der Kleidung geht dabei direkt an eine Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge am anderen Ende der Stadt.
Dies gilt auch für eine Lieferung, die gerade an anderer Stelle im Gebäude fertig gestellt wird. Es müssen fast hundert fertig gepackte Umzugskartons sein, die dort hoch aufeinandergestapelt vor mir stehen und auf ihre Abholung warten. „Das ist schon die zweite Ladung“ erzählt mir ein Helfer, der gerade kleine Zettel zur Identifikation der Kartons beschriftet. „Eine LKW-Ladung wurde schon weggefahren“.

Als dann meine Interviewpartner aus ihrer Besprechung kommen, erfahre ich auch, warum gerade heute so viele Kartons mit Kleidung verpackt werden. Schon in den nächsten Tagen sollen über 200 Geflüchtete in die Erstaufnahmeeinrichtung in Eschwege einziehen. Viele von Ihnen besitzen nach der langen Flucht kaum noch brauchbare Kleidung und sind deshalb umso mehr auf die Kleiderspenden angewiesen. Das habe die Erfahrung gezeigt, wie mir Karl Montag, einer der Organisatoren der Gruppe, schildert. Deswegen beteiligt sich die Hilfegruppe mittlerweile auch direkt in der Erstaufnahmeeinrichtung und organisiert dort die Kleiderausgabe gemeinsam mit den Verantwortlichen des Roten Kreuzes.

Ein Blick zurueck

Meinen Besuch bei Eschwege hilft beschließe ich gemeinsam mit meinen Interviewpartnern bei einer Tasse Kaffee. In einem langen Gespräch unterhalten wir uns über die Geschichte der Gruppe und die Pläne, die für die Zukunft anstehen. Was seinen Anfang mit einer spontanen Idee zum Spendensammeln für Geflüchtete nahm, hat mit dem Einzug in den ehemaligen Supermarkt eine neue Dimension erreicht. Gemeinsam mit der Homepage , einer Gruppe im sozialen Netzwerk Facebook und dem Kontakt zu zahlreichen Behörden, karitativen Einrichtungen und anderen Hilfegruppen ist seitdem ein gut funktionierendes Netzwerk zwischen verschiedenen Akteuren in der Region entstanden, das in Zukunft noch weiter ausgebaut werden soll.

Dass dies auch nötig sein wird, daran besteht für meine Gesprächspartner kein Zweifel. Wie lang die Arbeit noch fortgesetzt werden soll? „So lange, wie es sie eben braucht“ antworten meine Gegenüber darauf einstimmig. Eine Antwort, die mich zuversichtlich stimmt. Zuversichtlich darüber, dass sich auch weiterhin für Menschen eingesetzt werden wird, die alles hinter sich gelassen haben. Selbst wenn dies für den Anfang erst einmal bedeutet, dass genug warme Kleidung für den Winter bereitsteht.