Die Kamera läuft. H0lly sitzt vor seinem Computer. Die Wand hinter ihm ist auffällig hellgrün und er spielt ein Videospiel, das er zusätzlich zu seinem Gesicht aufnimmt. Es folgt ein gewitzter Kommentar und H0lly ist wie unter Strom – aber vor allen Dingen unterhaltsam. Das ist auch wichtig, schließlich müssen sich die Zuschauer später auch ausreichend unterhalten fühlen. Denn sie sollen weiterhin auf die bunten Vorschaubildchen, Thumbnails, klicken, die ihnen in der Liste ihrer abonnierten Kanäle auf YouTube angezeigt werden. Plötzlich folgt eine Pause, H0lly wirkt wie ausgewechselt, sein Blick wird starr und die ganze Power, die er vorher hatte, ist wie ausgesogen. Das hält aber nur einen Moment. Von einem Schlag auf den anderen geht es mit derselben Energie weiter, das Grinsen hat seinen Weg wieder in H0llys Gesicht gefunden.
Von den kleinen Aussetzern zwischendrin merkt derjenige, der sich später H0llys Videos ansieht allerdings nichts mehr. Bevor er seine Videos mit der Öffentlichkeit teilt, werden sie sorgfältig bearbeitet. Die kurzen Momente, in denen die Energie verschwindet und sich schon Gedanken über den nächsten Schnitt gemacht wird, werden aus dem Video mit einem Programm herausgeschnitten. Auch die grüne Wand verschwindet, sodass H0lly mit der Welt des Videospiels verschwimmt, losgelöst von dem Raum, in dem er eigentlich sitzt. Das alles gehört zu H0llys Job, denn H0lly ist YouTuber und Twitch-Streamer.

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Friedrich alias H0llyLP.

„H0llyLP“ – kurz H0lly -, der eigentlich Friedrich heißt und dessen Familie aus Kasachstan stammt, ist 24 Jahre alt und lebt zusammen mit seiner Freundin in Bremen. Eigentlich ein ganz normaler Kerl also. Doch er bestreitet seinen Lebensunterhalt auf eine eher unübliche Weise: H0lly verdient sein Geld neben den Videos, die er auf YouTube hochlädt mit dem Streamen, der Liveübertragung, von Videospielen auf der Livestreaming-Plattform Twitch. Die meisten Videos und Streams von H0lly drehen sich um das Thema Videospiele. So kann man ihm sowohl bei YouTube als auch bei Twitch dabei zusehen, wie er ein Videospiel spielt und es gleichzeitig kommentiert. H0lly führt den Zuschauer durch ein Spiel, während man seine Reaktionen und Meinungen dazu unmittelbar verfolgen kann. Es ist, als säße man zusammen in einem Raum und spielte zusammen ein Videospiel. Diese Art Videos nennt man im Internetjargon „Let’s Plays“, woher auch die Abkürzung „LP“ in H0llys Internetpseudonym kommt. Doch gehören auch andere Videos zum Repertoire seines Kanals: Es finden sich neben „Gameplay“- Videos auch so genannte Vlogs, Videotagebücher, die einen Einblick in den Alltag der Person hinter der Kamera gewähren. So sieht man den YouTuber nicht mehr unbedingt nur vor einem Greenscreen sitzen und eine Spielaufnahme kommentieren, sondern bekommt das Gefühl, man wäre auch in das alltägliche Leben des Vloggers oder Streamers involviert. Und wie alle Videos von H0lly sind diese ebenfalls mit dem nötigen Witz gespickt, um den Zuschauer an den Bildschirm zu fesseln und mit ihm zu lachen, obwohl eine ganze digitale Welt zwischen ihnen liegt. Natürlich immer zusätzlich zu einem aufwändigen Skript- und Bearbeitungsprozess der hochgeladenen Videos. Diese Arbeit begleitet H0lly den ganzen Tag über: „Immer wieder überprüfst du deine Kanäle und Sozialen Medien, beschäftigst dich mit Kommentaren oder überlegst dir, welche Spiele oder Events du als nächstes startest“, sagt H0lly.
H0llys Tag beginnt vermutlich so, wie es vielen Freiberuflern geht: Ohne feste Arbeitszeiten hat der Wecker seinen regelmäßigen Dienst an den Nagel gehängt und es fällt morgens deutlich schwerer, die schweren Knochen dann doch aus den Federn zu heben. Es fordert mehr Disziplin, sich an einen eigens erstellten Zeitplan zu halten, weshalb H0lly morgens möglichst versucht, um neun Uhr aufzustehen.

Die Idee, später einmal Leute durch das Spielen von Videospielen zu unterhalten, kam H0lly schon früh in den Sinn: „Als kleiner Junge war ich sehr begeistert von der Sendung ‚GIGA GAMES‘ und zusammen mit meinem damaligem besten Freund war es ein kleiner Traum dort mal zu arbeiten. Es war eine Sendung über Videospiele und grob gesagt waren es neben den News auch ‚Let’s Plays‘, die dort gezeigt wurden.“ Inspiriert durch seine Idole hinter dem Fernsehbildschirm begann H0lly seine Spiele zu kommentieren, während er sie spielte, allerdings ohne sich dabei aufzunehmen. Aus den Selbstgesprächen wurden erst Aufnahmen, als er durch einen Freund auf den YouTuber „DasMirko“ aufmerksam wurde, einer der ersten deutschen „Let’s Player“. Da sich „GIGA GAMES“ zu dieser Zeit bereits zu H0llys Bedauern aufgelöst hatte, wühlte er sich weiter durch die Weiten des Internets und fand immer mehr Gefallen an dem, was er etwa bei „DasMirko“ oder „PhunkRoyal“ gesehen hatte. Kurz darauf hatte er sich ein günstiges Headset besorgt und machte sich daran, einen eigenen YouTube-Kanal zu erstellen. „Die erste Idee für einen Kanalnamen war der Name ‚Broken C‘, da meine C-Taste zu dem Zeitpunkt kaputt war. Die Idee verwarf ich aber schnell, da ich sonst jedes Mal meine C-Taste kaputt machen müsste, falls ich mal eine neue Tastatur kaufen würde.“ Deswegen wurde aus Friedrich „H0lly“, abgeleitet von seinem Usernamen „h0llyw00d“ in diversen Videospielen. Aber aller Anfang war schwer. H0lly störte sich sehr an seinem rollenden „R“, welches er sich erst abgewöhnte und eifrig das deutsche „R“ übte. Nachdem dieses Problem beseitigt war, landeten seine Videos allerdings nicht direkt auf YouTube. Er wollte aufwändige Intros machen, mit gut recherchierten Infos zur Spielgeschichte und noch viel mehr – doch die Faulheit überwiegte und so wurden es am Ende doch simple „Let’s Plays“. Etwa anderthalb Jahre, nachdem H0lly mit YouTube angefangen hatte, gab es eine Phase, in der Netzwerke die Videoplattform für sich entdeckten: „Als plötzlich von überall Netzwerke auftauchten und alles verpartnern wollten, was bei drei nicht auf den Bäumen war, habe ich natürlich das Angebot angenommen, aus meinem Hobby ein wenig Geld zu machen. Meine erste Auszahlung waren 0,50 Cent.“, witzelt H0lly. Mittlerweile ist er ein Mitglied des Netzwerkes „the allyance“. Ein Netzwerk versammelt mehrere YouTube-Kanäle unter sich und wird dann sowas wie der Manager. Sie helfen ihrem Mitglied mit Lizenzrechten für Musik und Videospiele, unterstützen bei der Zusammenarbeit mit Firmen, laden zu Events ein und ersetzen Hardware, wenn mal etwas kaputt ist oder erneuert werden muss. Dafür bekommt man einen Manager des Netzwerks an die Seite gestellt, der sich dann um Fragen und Anregungen kümmert. Das hat allerdings seinen Preis: Um einem Netzwerk beitreten zu können, muss man eine gewissen „Größe“ auf YouTube oder Twitch erreicht haben. Außerdem werden je nach Vertrag und Kanal etwa 5%-20% der Einkünfte an das Netzwerk abgetreten. Bestimmen, was ein Mitglied auf seinem Kanälen hochlädt, können die Netzwerke allerdings nicht.

Porträt H0lly 1
H0llys Arbeitsplatz inklusive des Greenscreens und des Rechners seiner Freundin.

Wenn der innere Schweinehund überwunden ist und aus dem Bett gefunden wurde, führt der erste Weg ins Wohnzimmer an den PC. Dort wird sich dann zusammen mit der treuen Tasse Kaffee durch das Web und durch die eigene Bibliothek an Spielen geklickt, um nach Videospielen zu suchen, die man spielen und aufnehmen könnte. Dabei wird der Gedanke daran, was die Zuschauer am meisten sehen wollen, natürlich immer sicher im Hinterkopf behalten, auch wenn der eigene Wille überwiegt.
Denn die Zuschauer sind diejenigen, die es für H0lly überhaupt möglich machen, diese Tätigkeit hauptberuflich auszuüben. „Ohne Zuschauer wäre das Ganze natürlich nicht möglich. Sie zeigen mir was sie sehen wollen, beleben meine Videos mit ihren Kommentaren und sind wie ganz viele kleine Arbeitgeber“, sagt H0lly. Ohne die Menschen, die sich beispielsweise nach der Schule oder der Arbeit an den Computer setzen und auf H0llys Videos klicken oder sich einen Stream von ihm anschauen, gäbe es für H0lly auch keine Einnahmen. Die Einkünfte über YouTube und Twitch erfolgen in erster Linie über Werbeanzeigen und Spots, die vor, oder während des Streams oder des Videos gezeigt werden. Je mehr Klicks ein Video auf YouTube hat und je mehr Menschen sich dazu entscheiden, ihn auf YouTube zu abonnieren und dadurch regelmäßig die Werbung ansehen, desto mehr Geld bekommt H0lly. Ähnlich also wie ein Fernsehsender, der sich ohne Werbeeinahmen und Einschaltquoten der Sendungen sicher nicht lange auf dem Bildschirm halten kann. Die Einkünfte auf Twitch erfolgen allerdings teilweise direkter: Zuschauer haben die Möglichkeit, sobald ein Streamer Partner von Twitch geworden ist, 4,99 Dollar im Monat zu bezahlen, um ihn zu abonnieren oder zu „subscriben“, wie es auf Englisch heißt. Die eine Hälfte dieser Summe behält Twitch, die andere Hälfte wird direkt dem Streamer überwiesen. Einnahmen durch Twitch erfolgen auch durch direkte Spenden der Zuschauer, beispielsweise über PayPal, die H0lly auf sein Konto überwiesen bekommt. Das alles hilft auch den Fans. Mit dem Geld, das er einnimmt, kann sichergestellt werden, dass H0lly weiterhin Videos und Streams produziert.
„Es ist einfach verrückt, dass mittlerweile täglich um die 60.000 Menschen vor dem Rechner sitzen und sich meine Videos ansehen.“, sagt H0lly über seine Fans. „Was man über die Jahre geschaffen hat, wird einem auch erst nochmal klar, wenn man auf Events Zuschauer trifft, die sich extrem freuen einen zu sehen und ab und zu sogar ein paar Freudentränen vergießen.“

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„Fanart“ für H0lly von Anouki Morgenstern alias ChocoAnouki auf Twitter (https://twitter.com/ChocoAnouki).

Doch wirklich überzeugt waren vor allem seine Eltern am Anfang von der neuen Hauptbeschäftigung ihres Sohnes nicht, schließlich wird der Beruf des YouTubers von vielen Leuten noch nicht als „echter“ Job angesehen. So folgten eher Witze über den geringen Lohn, den H0lly erhielt. Umgestimmt konnten sie erst werden, als die Einnahmen immer höher wurden, erst im dreistelligen und mittlerweile im vierstelligen Bereich anzusiedeln sind. Seitdem bezeichnet H0lly „YouTuber“ und „Streamer“ überzeugt als seinen Beruf: „Das sind für mich Berufe wie andere künstlerische Tätigkeiten es auch sind. Es gibt kaum einen Unterschied, wenn ich jetzt beim Fernsehen arbeite und dort meine Show habe oder ob ich auf Twitch oder YouTube meine Show starte und unterhalte.“ Auch wenn die Zahlen vielleicht nicht ganz an die des Fernsehens rankommen, so hat H0lly mittlerweile doch eine für deutsche Verhältnisse recht große Community nachzuweisen. Seinen YouTube-Kanal haben bis heute etwa 230.000 Menschen abonniert, er liegt somit im Mittelfeld, und auch auf Twitch hat er eine so regelmäßige und vor allem große Menge an Zuschauern, dass er Partner von Twitch werden konnte. Das Gerücht, dass Streamer und YouTuber nur „für das Spielen von Videospielen bezahlt werden“, hält H0lly selbst für unüberlegt: „Die Leute von ‚GIGA GAMES‘ wurden auch ‚nur fürs Zocken‘ bezahlt. Zumal es sowieso unterschiedliche Inhalte auf YouTube und Twitch gibt. Vom Zocken bis hin zum Tutorial wie man eine eigene Wasserrutsche baut oder sich richtig schminkt.“ Außerdem wäre die Arbeit, die in das Schneiden der Videos fließe mittlerweile größer, als die des Aufnehmens an sich.
Ist die Phase des Aufnehmens und Schneidens der Videos geschafft, wird die Kamera erstmal ausgemacht. Dann steht H0lly auf, schnappt sich seine Freundin und wirft sich auf das große Sofa, das den Rest des Wohnzimmers einnimmt. H0lly entspannt sich mit ein paar Serien vor dem Fernseher und man bekommt das Gefühl, er wäre eine ganz andere Person. Von dem Energiebündel von vorhin ist nur noch wenig übrig, H0lly ist viel zurückhaltender und schweigt auffällig. Man glaubt kaum, dass der Mann, der da auf dem Sofa sitzt und total entspannt im Kissen liegt, derselbe ist. Fern des Internets wird aus H0lly wieder Friedrich. „Auf YouTube bin ich ein wenig aufgedrehter und haue einen Spruch nach dem andern raus, in der Hoffnung, dass einer von denen jemanden zum Lachen bringt. Privat bin ich viel ruhiger und lasse nicht zwingend den Entertainer raushängen.“ Die Rolle des Entertainers hat ihm aber auch gut getan. „Ich war sehr introvertiert. Jetzt fällt es mir viel leichter ein Gespräch anzufangen ohne direkt Panik zu bekommen. Danke H0lly!“

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H0lly bei der Arbeit an seinem PC.

Einen Einblick in diese private Persönlichkeit erhält man dann im Stream, der als nächstes folgt. Nachdem H0lly den Einkauf erledigt hat, der zum Überleben notwendig ist, setzt er sich wieder an seinen PC. Eifrig klickt er sich durch die Einstellungen für Twitch, richtet sein Equipment und seine Haare und klickt dann gegen 17:00 Uhr auf den kleinen grauen Button seiner Stream-Software: Stream starten. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Alles was er nun tut, kann im Internet gesehen werden. Zurück ist der Greenscreen und aus Friedrich wird zu einem kleinen Teil wieder H0lly, nur viel greifbarer, als säße man mit ihm in einer Bar und unterhielte sich.
Twitch ist auch das, was H0lly momentan am meisten reizt. Wenn er vor dem Bildschirm sitzt, den Controller in der Hand hat und immer mal wieder auf den Bildschirm rechts von ihm schielt, um sich mit seinen Zuschauern zu unterhalten, hat er den meisten Spaß. So ist es ihm möglich, viel direkteren Kontakt aufzunehmen und weniger aufwendig ist es auch. Kleinere Videos lädt er allerdings noch immer gerne auf YouTube hoch. Deswegen hofft er auch, dies auch in Zukunft machen zu können: „Es ist ein Traum, den ich mir verwirklicht habe oder mir verwirklicht wurde. Wenn das Ganze irgendwann nicht laufen wird, dann werde ich mir einen anderen, ‚richtigen‘ Job suchen. In meiner linken Hosentasche habe ich noch eine abgeschlossene schulische Ausbildung zum Gestaltungstechnischen Assistenten sowie Fachabitur.“
Mit einem letzten „Tschüss!“ klickt H0lly dann wieder auf den Button, der den Stream beendet. Er lehnt sich zurück, atmet durch und gönnt sich einen Moment Ruhe. Ganze sechs Stunden hat er nun auch für den Stream aufgewendet. Mit dem Schneiden und Aufnehmen der Videos kommt man da locker auf einen Zehn-Stunden-Tag. Der Arbeitstag ist erstmal geschafft, auch wenn er die Arbeit nie ganz vergessen kann. Dafür ist sie viel zu präsent in seinem Alltag. H0llys letzter Weg führt ihn jetzt ins Bett, damit er morgen wieder um neun Uhr aufstehen kann. Schließlich müssen, wie jeden Tag, Videos aufgenommen, geschnitten und hochgeladen werden. Und dafür muss Friedrich erstmal Energie tanken, um wie jeden Tag in die Rolle von H0llyLP zu schlüpfen.