Frerk Schenker. Foto: Tim Schaarschmidt

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Frerk Schenker. Foto: Tim Schaarschmidt

Vor 21 Jahren verschlägt es ihn nach Göttingen, um zu studieren, jetzt kehrt Frerk Schenker als neuer Chefredakteur des Göttinger und Eichsfelder Tageblatts (GT/ET) zurück in den Süden Niedersachsens. „Wie Heimkommen“ habe es sich angefühlt als er am 1. März seinen ersten Arbeitstag in der Redaktion in Göttingen antritt. Ich habe ihn zu einem Interview getroffen bzw. haben wir uns coronakonform online getroffen – irgendwie absurd so auf Distanz über Lokales zu sprechen, aber dazu später mehr.

Überregional geht nicht ohne Region

Ich habe den Madsack-Stallgeruch

Seit 2010 ist Schenker im Hause der Madsack Mediengruppe tätig. Nachdem er sein Volontariat in Kassel bei der HNA absolvierte, arbeitete er lange bei der HAZ in Hannover und dann beim RedaktionsNetzwerk Deutschland, kurz RND. Dort leitete Schenker die letzten drei Jahre den Digital Hub, das neue, überregionale Nachrichtenzentrum des Netzwerks. Diese überregional ausgerichtete Position kommt ihm gerade zugute, sagt Schenker. Als Leiter des Digital Hubs habe er die Schnittstelle zwischen dem Madsack-Haupthaus in Hannover und den lokalen Redaktionen gebildet. Gerade diesen geteilten Blick – vom Verlag auf die einzelnen Redaktionen und aber auch von den Redaktionen auf das Netzwerk – komme ihm nun sehr gelegen und habe ihm einen wirklich guten Start ermöglicht. Schon 2001 hat der, damals 21-jährige, Geschichtsstudent seinen ersten Artikel als freier Mitarbeiter für die GT-Sportredaktion verfasst – der Beginn einer langen und innigen Beziehung zum Lokaljournalismus. Schon bevor Schenker für das Studium nach Göttingen kommt, arbeitet er als Reporter für die Lokalzeitung seiner Heimatstadt. Gerade deshalb habe es ihn extrem geärgert, dass einer seiner Professoren immer sehr flapsig über das GT hergezogen habe. Diese Klitsche bräuchten Sie nicht zu lesen, soll er zu seinen Studierenden gesagt haben. „Ich fand das sehr unangebracht, hochnäsig und arrogant, dass man über die Lokalzeitung so hinwegwischt und so tut, als sei das Überregionale das einzig Wahre im Leben“, erzählt Schenker.

Generell möchte Schenker mit einem weitverbreiteten Irrglauben aufräumen. „Das RND sitzt im Haupthaus in Hannover, ist aber natürlich viel mehr als nur diese zentrale Redaktion“, die einzelnen Lokalredaktionen seien enorm wichtig für eine gute, breit gefächerte Berichterstattung. Nur so kann ein Netzwerk bestehen.

Ein Kollege, der in Hannover sitzt, sieht nicht wie in Göttingen das Wetter ist

Er sei ein großer Verfechter der Idee, heutzutage bestimmte Bereiche aus den kleinen Lokalredaktionen auszugliedern. Dazu zählen unter anderem das Site-Management, die Produktion des E-Papers, das Anzeigengeschäft oder auch das Social-Media-Management. Allerdings werden der enorme Vormarsch der digitalen Informationsangebote und auch die immer weiter voranschreitende Digitalisierung der lokalen Presse nie den Effekt haben, dass lokale Redaktionen überflüssig seien, erklärt Schenker. Er erzählt, dass er den Vorteil der direkten Ortsnähe erst letzte Woche erlebt habe. Die Atmosphäre in der Göttinger Innenstadt nach den ersten Lockerungen der Corona-Bestimmungen zu beurteilen, wäre für einen Redakteur in Hannover nicht möglich gewesen. „Lokaljournalismus wird man nur vor Ort machen können, das geht nicht anders“, da ist sich Schenker ganz sicher.

Familien-Fokus und der Hype um Social Media

Diverse Studien, beispielsweise des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger e. V. (BDZV), zeigen, dass das Durchschnittsalter von Abonnenten eines lokalen Printprodukts sehr hoch ist – weit über 40. Betrachtet man die Abonnenten von digitalen Angeboten, sinkt das Durchschnittsalter etwas. Die Zielgruppe von 18 bis 30 Jahren erreichen Lokalzeitungen in Deutschland jedoch nur selten auf regelmäßiger Basis. Dabei wird das Stadtbild von einer Universitätsstadt wie Göttingen maßgeblich von jungen Leuten bestimmt. Schenker hatte als Student selbst zwar eine Zeitung abonniert und sei seither leidenschaftlicher Printleser, jedoch sei das zu seiner Studentenzeit auch nicht das GT gewesen. Außerdem habe er damit eher eine Ausnahme im Vergleich zu seinen Kommilitonen dargestellt. Heutzutage sei es dementsprechend noch schwieriger, Studenten von einem Abo der lokalen Zeitung zu überzeugen.

Der Student wird nicht unbedingt zur Printzeitung greifen, der hat sein Smartphone in der Hand. Der liest vielleicht ein E-Paper, aber wird nicht unbedingt die Printzeitung am Kiosk kaufen

Seit der Bologna-Reform studieren die meisten im Bachelor nur noch sechs Semester, wechseln also oft schon nach drei Jahren wieder ihren Wohn- und Studienort, um dann woanders zu arbeiten oder ggf. einen Master zu machen. Sich ändernde Studentenbiografien und Lesegewohnheiten unter jungen Leuten sind laut Schenker die Hauptgründe dafür, dass so wenige in ihren Zwanzigern zur lokalen Printzeitung greifen. Schenker bleibt da realistisch, für ihn gibt es eine viel wichtigere Zielgruppe, die es zu erreichen gilt in Göttingen. Schenker ist selbst zweifacher Familienvater und gibt zu, dass er nun nach 20 Jahren selbst mit einem ganz anderen Blick auf die Stadt guckt, als er es zu Zeiten seines Studiums getan habe. „Heute gucke ich eher nach Spielplätzen, als Student hat man vor allem geschaut, wo man abends eine zünftige Party feiern kann“, erinnert er sich. Schenker ist der Meinung, dass die Lebenswirklichkeiten von jungen Familien noch nicht kontinuierlich genug im GT/ET abgebildet werden. Segen und Fluch des digitalen Journalismus sei, dass man „von morgens bis abends vom Leser aufs Brot geschmiert bekommt, ob wir guten Journalismus machen“. Anhand von Klickzahlen, Likes, Kommentaren und natürlich vor allem Abonnenten lässt sich heutzutage ziemlich genau einordnen, was den Leser interessiert und was nicht. In den vergangenen Jahren wurde deshalb schon häufig nachjustiert, um an neue Zielgruppen heranzutreten, so Schenker. Er vertritt jedoch auch die klare Meinung, dass es sich nicht lohne, als Lokalzeitung in jedem Social-Media-Netzwerk vertreten zu sein.

Über Instagram schließt kaum jemand ein Abo ab

Neben der Gewinnung neuer Abonnenten sei es natürlich trotzdem wichtig, Präsenz zu zeigen, um die Marke GT/ET auch bei jüngeren Zielgruppen bekannt zu machen. Ein weiterer interessanter Schritt, den Schenker vorschlägt, ist eine mögliche Kooperation zwischen Medienhäusern und Universitäten in Sachen Medien-Vermittlung und der Schulung von Medienkompetenz.

Brotlose Kunst, aber bitte täglich!

Klickt man sich durch diverse Instagram-Beiträge des GT/ET und liest die Kommentare, wird deutlich, dass sich viele gerade junge Nutzer ärgern, dass die meisten Artikel, die in Social-Media-Posts verlinkt werden, hinter einer Bezahlschranke verborgen bleiben. Im Juli 2019 hat Madsack das Plus-Modell eingeführt und somit viele digitale Inhalte mit einer Paywall versehen – mit großem Erfolg laut Schenker. Er geht sogar noch weiter und bezeichnet die langjährige kostenlose Bereitstellung von journalistischen Inhalten im Netz als großen Fehler. Für ihn sei der Tag, als die Bezahlschranke eingeführt wurde, einer seiner schönsten Arbeitstage im RND Digital Hub gewesen.

Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass das, was man im Digitalen macht, einen Wert hat

Es sei noch viel Arbeit zu tun, um wirklich allen Menschen zu vermitteln, dass vor allem guter Lokaljournalismus nicht umsonst zu kriegen sei. Als Beispiel führt er die aktuelle Debatte um die Veröffentlichung von allen Inzidenzwerten des Landkreises aufgeteilt nach Kommunen an. Diese Debatte werde nur vom GT/ET geführt und vor allem auch nur in den Lokalmedien abgebildet, nicht in der überregionalen Berichterstattung. Das Problem sei, dass gerade dieses Privileg von vielen Leuten als selbstverständlich wahrgenommen werde. Guter Lokaljournalismus zeichnet sich durch kritisches Hinterfragen und gute Recherche aus. In vielen Fällen dauert das für einen einzigen Artikel gerne mal einen halben bis ganzen Arbeitstag, erklärt Schenker. Der Redakteur fährt meistens zum Ort des Geschehens, es werden O-Töne eingeholt, Fotos gemacht und die Atmosphäre eingefangen. Zurück in der Redaktion müssen noch weitere Telefonate mit Sachverständigen oder Zeugen geführt werden. Diese Arbeit muss bezahlt werden.

Ich gehe ja auch nicht zum Bäcker und verlange, dass ich die Brötchen umsonst bekomme, weil sie essenziell wichtig für mein Überleben sind

Im Lokalen auf Distanz

Während der Corona-Pandemie im letzten Jahr hat sich diese Einstellung gegenüber den Medien enorm gewandelt. Vor allem zu Beginn der Pandemie wurde vielen Zeitungen noch vorgeworfen, Panik zu verbreiten. Das hat Schenker am eigenen Leib erlebt. Im Laufe des Jahres ist aber vielen Menschen auch bewusst geworden, wie wichtig mediale Berichterstattung ist. Das könne gut dazu beitragen, dass in Zukunft noch mehr Menschen realisieren, wie viel Arbeit im Lokaljournalismus stecke und dass diese eben auch systemrelevant sei, so Schenker. Gleichzeitig erzählt er aber auch, dass sich die Redaktionen ebenfalls anpassen mussten. „Die Menschen sind unfassbar sensibilisiert. Ein simpler Bericht mit den Infektionszahlen von heute kann einem bei Social Media um die Ohren fliegen“. Viele Redakteure haben im letzten Jahr gelernt, noch kritischer zu hinterfragen, noch genauer zu recherchieren und penibel auf ihre Wortwahl zu achten, erklärt er. Kritik vonseiten des Lesers müsse immer gehört werden und dann je nach Seriosität und Hintergrund Anwendung finden.

Gleichzeitig leidet der Lokaljournalismus auch extrem unter den Kontaktbeschränkungen und der stillgelegten Veranstaltungs- und Kulturszene. „Wir sind so weit weg vom Leser wie nie zuvor“, sagt Schenker. Diese Entwicklung beobachtet er mit großer Sorge, da eben nur durch den engen Kontakt zu den Menschen in der Region eine bestmögliche Berichterstattung ablaufen könne. Wo sie dem Leser nähergekommen seien, sei dann eben auf Social Media gewesen, erläutert Schenker weiter. Es ergibt sich ein Wechselspiel aus Distanz und Nähe. Reagiert werde darauf, indem man sich in den Redaktionen noch viel häufiger fragen würde, was den Leser wirklich beschäftigt.

Unsere Aufgabe in der Pandemie ist, Fragen zu beantworten

Zukunftsmusik

Schenker, der sich gerne auch als „Anwalt des Lesers“ sieht, spricht gerne über seine Liebe zur Printzeitung. Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass die Zukunft des Lokaljournalismus nicht an einen einzigen Ausspielweg geknüpft sein kann. „Was bleibt ist, dass eine gute Geschichte eine gute Geschichte ist, egal wie ich sie an den Leser bringe“, sagt er. Er selbst würde niemals vorhersagen, dass Print definitiv in den nächsten Jahren aussterbe, natürlich könne man das aber auch nicht komplett verneinen. Die Zielgruppe Print sterbe nun mal langsam aus, erklärt Schenker. Für die nächsten fünf Jahre wünscht er sich, dass „das GT/ET im Leben der Leser eine Rolle spielt“. Schenker möchte als neuer Chefredakteur mit seiner Lokalzeitung Gesprächsthema sein und vor allem für guten Journalismus stehen. „Wir Journalisten haben diesen Beruf gewählt, weil es uns Spaß macht, den Leser jeden Tag aus Neue von unserer Qualität zu überzeugen“, mit dieser Einstellung kämpft Schenker um die Leserschaft und den Fortbestand des GT/ET und blickt dabei positiv in die Zukunft.