Freitagnachmittag, 28.01.2022, drei Tage vor dem Chinesischen Silvester, bereitet Frau Wu (23) sich vor, von Göttingen nach Hannover mit dem Zug zu fahren, um da Lebensmittel fürs Chinesische Neujahr einzukaufen. „In Hannover gibt es mehr asiatische Läden und mehr Angebote,“ sagt sie, „und währenddessen kann man auch ein schönes Abendessen im Restaurant genießen, ich bin schon lange nicht in die ‚Stadt‘ gegangen.“

Nachdem sie in 2019 nach Deutschland wegen des Masterstudiums umgezogen ist, ist sie noch nie zurück in die Heimat geflogen und hat die Familien schon lange nicht besucht. Und das ist jetzt ihr drittes Chinesisches Neujahr in Deutschland. „An solchen Tagen braucht man nur die Augenbrauen zu schminken,“ lächelt sie, „man muss gar keine komplizierte Schminke machen – man muss sowieso fast überall eine Maske tragen.“ Oh, stimmt!

Zusammen mit vielen anderen Studierenden setzt sie sich in den Zug nach Hannover ein. Viele steigen in Hannover um und reisen weiter in andere Städte, sie steigt aber zusammen mit vielen anderen hier aus. „Es gibt so viele Menschen im Zug sowie im Bahnhof, zwar gehen sie wahrscheinlich nur einfach nach Hause um ein Wochenende mit der Familie zu genießen und haben gar nichts zu tun mit Chinesischem Neujahr, aber es ist so lebendig überall und das fühlt sich schon so fröhlich und festlich an!“

Die Stadt durchlaufen und die Lebensmittel sammeln – eine Pilgerfahrt

Wie Frau Wu, laufen viele chinesische Studierende durch die Städte, wo sie studieren und wohnen, um die richtigen, oder zumindest „passenden“ Lebensmittel zu suchen und sammeln. Viele haben sogar gar keine Vorerfahrungen mit dem Kochen, bevor sie nach Deutschland umgezogen sind. Aber jetzt möchten oder müssen sie was Chinesisches kochen, um ein bisschen heimatlichen Geschmack und ein bisschen festliches Gefühl, fast zehn Tausende Kilometer von der Heimat entfernt, zu schaffen.

Ich selbst auch. Genauso wie Frau Wu bin ich in 2019 wegen eines Praktikums nach Deutschland umgezogen und habe danach direkt mit dem Studium in Göttingen angefangen. Bisher bin ich noch nie zurück geflogen und habe meine Familie fast zweieinhalb Jahre nicht gesehen. In den vergangenen zwei Jahren wohnte ich alleine und feierte das Chinesische Neujahr nicht genau. Ich habe damals nur etwas ganz Einfaches erhitzt und „das war’s“ dann. Ich wurde auch von vorherigen Kolleg*innen nach Hannover eingeladen, ein kurzes Glück zusammen mit anderen chinesischen „Nicht-zur-Heimat-Zurückkehrenden“ genießen, dann kehrte ich, alleine oder mit einer Freundin, im Zug in der tiefen Nacht nach Göttingen zurück.

Dieses Jahr ist es aber anders. Seit letztem April wohne ich im Studentenwohnheim und teile dieselbe Küche mit vielen Menschen . Man redet miteinander und mittlerweile fühle ich schon, dass ich nicht mehr alleine wohne. In den vergangen Monaten habe ich schon viele leckere Brötchen (insbesondere die legendären Zimtrollen, die von einem Mitbewohner gemacht werden), Kekse, Kuchen, und viele andere Sachen von den Mitbewohner*innen erhalten und probiert und ich finde, es ist endlich meine Chance, etwas für sie zu machen. Ja, jetzt kann ich auch was zum Chinesischen Neujahr mit ihnen teilen.

Wie gesagt, haben nicht alle die Vorerfahrungen mit dem Kochen, bevor sie nach Deutschland umgezogen sind. Ich auch nicht. Nachdem ich wegen meines ersten Studiums von der Heimat nach Shanghai in 2009 umgezogen bin, habe ich in den Mensen der Uni oder im Restaurant draußen gegessen. Kochen war nie ein Thema in meinem Leben. Damals hatte ich keine Motivation und auch keine Zeit dafür. Aber jetzt im Alter von 32 möchte ich plötzlich etwas Spezielles, und zwar 饺子 Jiaozi, fürs Chinesische Neujahr selbst kochen. Nun laufe ich am Nachmittag des letzten Samstags vor dem Silvester durch die Göttinger Straßen zu unterschiedlichen Supermärkten und Läden, da ich viele spezifische Saucen brauchen, wofür es keine einfache „One-Stop-Lösung“ gibt.

Im Studentenheim wohnen die Menschen aus vielen unterschiedlichen Kulturen mit verschiedenen Präferenzen und Tabus in Bezug auf Esskultur. Deswegen habe ich zunächst nur das Rindfleisch und das Gemüse von Kaufland im zentral-südlichen Teil der Innenstadt bekommen. Als ich lange im Supermarkt gewandert bin, ist die Sonne schon langsam untergegangen. Das Wetter war nicht so schön, denn es regnete ab und zu. Als ich wieder aus der Tür Kauflands gekommen bin, war es schon dunkel.

Zuhause steckte ich die gerade gekauften Sachen in den Kühlschrank. „Manche Sachen konnte ich im Kaufland leider nicht finden. Ich muss schnell noch mal zu einem asiatischen Laden gehen. Weiß du, wo der nächste Asien-Laden liegt?“ fragte ich meine Mitbewohnerin Sam (J.C.), auch eine chinesische Studentin, die aber aus Shanghai kommt, wo man Jiaozi zum chinesischen Neujahr nicht isst. Deswegen könnte sie zwar wahrscheinlich auch ein bisschen neugierig sein, was ich am Ende kochen würde und könnte, aber sie konnte nicht viel dabei helfen – sie hat auch nie Jiaozi selbst gemacht. „Im Osten des Stadtzentrums, öffne mal dein Handy-Map, ich kann es dir zeigen.“ antwortete sie, als sie noch ein normales Abendessen für den Samstag kochte.

Dann lief ich schnell dorthin und kaufte unterschiedliche Saucen, insbesondere die Soja-Sauce. In einem frühen Radiofeature-Beitrag haben mehrere chinesische Interviewte gesagt, dass die Soja-Sauce eine zentrale Rolle spielen würde, wenn man was chinesisches kochen möchte. Man kann sie natürlich von größeren Supermärkten bekommen, aber hier sind sie ganz günstig und authentisch. „Frohes Chinesisches Neujahr, ne?“ sagte mir die Chefin des süßen Asien-Ladens. „Ja, danke danke, gleichfalls!“ antwortete ich auch fröhlich. Obwohl ich schon vieles eingekauft habe, fürchtete ich noch, dass ich was vergessen haben könnte. Deswegen lief ich noch weiter durch die Stadt in den Süden. Da fängt es an zu regnen, zwar nicht so stark, aber die Jacke wurde schnell nass. Trotzdem mochte ich alles ausreichend wie möglich vorbereiten. Dann lief ich weiterhin, durch die Straßen, durch die Fußgänger, im Regen. Wie Frau Wu über die Szene in Hannover berichtet, laufen jetzt auch viele Menschen in Göttinger Straßen – zwar laufen sie an einem solchen ruhigen Samstagabend, wahrscheinlich nur um das Wochenende ein bisschen zu feiern, und haben nichts zu tun mit dem Chinesischen Neujahr, aber trotzdem fühle ich fröhlich, dass die lebendige Umgebung ein bisschen ähnlich wie die Atmosphäre während des Naujahrs in China ist.

Es ist üblich für uns, unterschiedliche Sachen aus verschiedenen Läden zu sammeln, um nur einen Heimatgeschmack zu kochen. Durch dieses Laufen in den Straßen einer fremden Stadt zum Einkaufen der speziellen Lebensmittel erschafft man unterwegs eine neue Verbindung mit den lokalen Orten in der Stadt. Zwar ist es ein Prozess vom Einkaufen und Essenkochen, eine Handlung gegen die Fremdheit einer neuen Umgebung, gleichzeitig ist es auch ein Prozess, eine Connection zu den neuen Orten zu etablieren und eine spezielle Bedeutung dafür zu entdecken. Vorher habe ich eigentlich nie die Asien-Läden besucht. Ich dachte sogar, warum brauche ich noch die chinesischen Gerichte zu kochen, wenn ich die schon lange gegessen habe und in der Zukunft wahrscheinlich auch wieder jeden Tag essen könnte? Ich kann einfach das lokale deutsche Essen genießen, oder? Aber dieses Jahr ist es anders, nachdem ich dieses „Durchlaufen“ gemacht habe, ist das Gefühl des Laufens im Regen auch in meine Erinnerung tiefgegangen. So ist auch das „Frohes Chinesisches Neujahr, ne?“ von der netten Chefin des kleinen liebvollen Asien-Ladens.

Authentizität des Geschmacks? – eine imaginierte Sehnsucht

Zum Ende des Tages habe ich ungefähr alles bekommen, nur fehlten noch Knoblauch und Ingwer, die wahrscheinlich ausverkauft waren – nirgends konnte ich sie finden. Schade und ärgerlich (nur ein kleines bisschen)!

Um einen authentischen Geschmack des Jiaozis zu schaffen, braucht man (in viele Regionen) Knoblauch und Ingwer. Genauso wie Soja-Sauce, werden Knoblauch und Ingwer und viel mehr Sachen für bestimmte Gerichte als ein Muss betrachtet. Wenn man sie benutzt hat, schmeckt es dann authentisch, wenn nicht, dann ein bisschen problematisch. Solche Sehnsucht nach dem sogenannt authentischen Geschmack haben nicht nur die chinesischen Leute im Ausland. Ganz oft suchen die Deutschen, die in Shanghai arbeiten und wohnen, auch das authentische deutsche Essen und Trinken, das Brot insbesondere, und natürlich das Bier auch.

Die Frage ist aber: ist Authentizität ein echtes Ding, das man einfach durch die Sammlung bestimmter Zutaten nach bestimmtem Rezept und Arbeitsgang duplizieren kann? Welches Rezept ist denn der ultimative Standard, den man nicht brechen sollte oder dürfte?

Wenn man die Frage auf eine so extreme Weise formuliert, ist die Antwort natürlich auch schon offensichtlich – Es gibt keine standardisierte Authentizität des Essens oder Geschmacks, sondern nur eine imaginierte Version, die auf unseren eigenen Erfahrungen und Erinnerungen basiert. Anders gesagt, hat jeder in Bezug auf das Essen seine eigene Version der Authentizität, die tief als sinnliche Erfahrungen in unsere Erinnerungen gespeichert sind. Man kann sie nicht so leicht durch Wörter beschreiben, aber wenn man was falsches gegessen hat, bemerkt man es sofort. „Das schmeckt ein bisschen … komisch!“ würde ich sagen.

Ich komme aus Nordchina, aus einem kleinen Dorf mit ungefähr ein Tausend Einwohner*innen. Jede Familie kocht Jiaozi zum Silvester des Chinesischen Neujahrs und jede Familie hat ihr eigenes Rezept. Das Rezept ist kein Geheimnis, man lehrt einander auch, aber trotzdem kochen alle ein bisschen unterschiedlich. Als ich Kind war, dachte ich immer, dass das Jiaozi der Nachbarn besser schmeckte, weil damals meine Eltern Jiaozi ganz oft ohne Knoblauch und Ingwer machten. Aber gut, heute ist es für mich dann gar kein Problem, wenn ich Jiaozi auch ohne die beiden machen musste.

Manche chinesische Studierende, die ich hier kennengelernt habe, posten schon Bilder von ihnen, haben auch schon Pläne wie Frau Wu und ich. Wegen der Pandemie feiern wir meistens zu Hause mit den Mitbewohner*innen. Nach langer Überlegung der Formulierung sende ich auch eine Einladung für die Mitbewohner*innen in unsere WhatsApp-Gruppe.

Und… Endlich! Jetzt ist (fast) alles erledigt. Nur brauche ich ruhig auf den richtigen Silvester abzuwarten.

Chuxi: Das Chinesische Silvester, eine ruhige Version

Das Chinesische Silvester liegt jedes Jahr auf unterschiedlichem Datum. Dieses Jahr liegt es auf dem 31. Januar 2022, also, ein ganz normaler Montag für die anderen Menschen in Deutschland. Am Tag haben die chinesischen Studierenden wahrscheinlich noch Seminare, sogar noch mehr Stress wegen des kommenden Semesterendes zusammen mit den Klausuren. Bevor ich mit dem Studium angefangen habe, arbeitete ich auch als vollzeitiger Praktikant in Hannover für ein vorheriges Studium in Shanghai. Damals musste ich sogar noch an diesem Tag arbeiten, obwohl es mir so schwer war, mich zu konzentrieren. Insbesondere wenn alle Familienmitglieder, Verwandte und Freunde, die wir lange nicht gesehen haben, während des Tages zahlreiche Nachrichten und 红包 Hongbaos in den WeChat-Gruppen der Familie oder der Freunde senden.

So, an diesem Tag dieses Jahres habe ich noch an den Seminaren teilgenommen, nur zum Abend habe ich endlich frei und jetzt fange ich mit dem Kochen an. Wie gesagt, habe ich keine Vorerfahrungen und muss auch meine vage Erinnerungen von der weiten Vergangenheit vor sechs Jahren zusammen mit einer Online-Anleitung kombinieren. Warum vor sechs Jahren? Weil meine Mutter damals noch lebte, und das war auch das letzte Mal, dass meine Eltern Jiaozi zusammen gemacht haben. Danach hat mein Vater auch die Lust verloren, Jiaozi selbst zu machen – er kauft es vom Laden im Dorf und dann kocht es in einigen Minuten. Es scheckt lecker und industrial. Und wir essen zusammen, ganz ruhig und still, ohne Mutter.

Ja, das scheint auch der tiefe Grund, warum ich dieses Jahr einen solchen Plan habe, dass ich es unbedingt selbst machen will – die Stille, die ich seit Jahren bitter genossen habe, möchte ich dieses Jahr nicht mehr erfahren. Aber noch mal, „Semesterende“, alle sind beschäftigt. Deswegen koche ich ja wieder alleine. Das gute Ding ist, dass später einige Mitbewohner*innen mitfeiern werden, nachdem sie vom draußen nach Hause gekommen sind.

Frau Wu und ihr Nachbar haben mir auch ihre Einkaufsergebnisse gezeigt und sie sind auch so bereit, etwas leckeres zu kochen. Da kämpfe ich noch um den Teig und die Füllung fürs Jiaozi, schaue mal das Rezept, schaue mal das Erklärvideo, schaue mal noch meine „Werke“ unter meinen Händen. Uupps… zu viel Mehl! Dann füge ich bisschen Wasser hinzu? Uuupppps, mal wieder zu viel Wasser…! Dann wieder ein bisschen Mehl? Ich kann nocht nicht mit dem Messbecher gut arbeiten. Alles mache ich mehr oder weniger mit dem Bauchgefühl, wie meine Eltern, die nie eine Küchenwaage oder einen Messbecher benutzt haben. Aber zum Ende habe ich es geschafft, also, ungefähr.

Mittlerweile teilen mir auch einige chinesische Studierende durch WeChat die Fotos von ihrem Kochen und Silvesteressen. „Ich habe 肠粉 changfen/Gedämpfte Vermicelli-Rolle gemacht, haha, zwar kaut es ein bisschen komisch, aber der Geschmack scheckt richtig genauso wie in der Heimat,“ lacht Mangte (Spitzname), eine Studentin aus Guangdong Provinz, „ich habe es lange experimentiert und endlich mitbekommen.“

Jetzt ist 9 Uhr am Abend, und meine Mitbewohner*innen kommen zurück nach Hause und tauchen nacheinander in der Küche auf. Sam (J.C.) kommt auch aus dem Zimmer und macht den Tisch bereit. Ich freue mich darüber sehr, da ich für ein paar Sekunde fürchtete, dass alle plötzlich zu beschäftigt wären und ich es wieder selbst „ruhig“ feiern müsste.

Ein Bild des gemeinsamen Essens habe ich leider nicht machen können, es fühlte sich einfach falsch an, wenn ich die Feier plötzlich mit einer Handy-Kamera unterbrechen würde. „Ich habe lange nur die tiefgefrorenen Sachen mal erhitzt und gegessen, heute habe ich endlich ein richtiges Essen und was ‚Hand-Made‘ gegessen,“ sagte mir ein Mitbewohner.

Well, ich auch, Hand-Made Jiaozi habe ich selbst auch lange nicht gegessen.

(Vielen Dank fürs Textfeedback von Patrizia, alle weiteren Fehler sind meine.)