Der erfolgreichste Leichtathlet hat keinen Betreuungsstab und keinen Trainer. Auch sein Trainingsgerät ist eines mehrfachen Europameisters und Weltmeisters nicht würdig. „Die Hürden wollten sie entsorgen. Da habe ich zugeschlagen. Die Schaumstoffpolsterung ist ideal zum Trainieren“, erklärt Rolf. Die anderen Athleten nehmen kaum Notiz von der Legende. Er stellt die Hürden an diesem Nachmittag in gewohntem Abstand auf die Laufbahn, passt die entgegenkommenden Läufer ab, und überspringt die Hindernisse mehrfach mühelos. Rolf hat keinen festen Trainingsablauf oder Trainingszeiten. Nach dem Hürdenlauf widmet sich der Mehrkämpfer der Disziplin Speerwurf. Er nimmt in der Regel acht Meter Anlauf, bevor der Speer seinen rechten Wurfarm verlässt. Nach einigen Versuchen macht Rolf eine kurze Verschnaufpause, die hat er sich verdient, denn er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Genaugenommen eher ein Methusalem in der Sportszene. 78 Jahre alt.

Rekordhalter

Und so erfolgreich wie kein anderer: 17 Europameistertitel. 15 Weltmeistertitel. 14 Weltrekorde. Seine Disziplinen: Hürdenlauf, Diskuswurf, Hochsprung, Speerwurf, Kugelstoßen, Stabhochsprung und Weitsprung. Statt Preisgeld gibt es Siegerurkunden. Bei der Hallen-WM 2019 in Polen setzt er sich gegen die sechsköpfige Konkurrenz durch und gewinnt den Fünfkampf in der Altersklasse M75 mit neuem Weltrekord. Auch beim Stendaler Hanse-Cup kann Rolf siegen, diesmal im Zehnkampf, und den Weltrekord um 600 Punkte verbessern. Hier ist er in seiner Altersklasse allerdings der einzige Teilnehmer. Rolf nimmt es mit Humor: „Das Starterfeld wird mit fortschreitendem Alter immer dünner. Da gehört man schnell zum Favoritenkreis.“

Rolf kämpft gegen die Zeit und Schwerkraft. Und immer mehr gegen seinen ärgsten Feind: das Altern. „Alles wird anstrengender. Die Regenerationszeit dauert länger“, muss er feststellen. Rolf Geese ist kein ehemaliger Spitzensportler, der im Alter nicht aufhören will. Rolf hat im Alter erst angefangen. Der 78-Jährige dominiert seit mehr als zwanzig Jahren die Seniorenleichtathletikszene im Mehrkampf. Seine Lieblingsdisziplin ist der Hürdenlauf. Besonderen Respekt hat der Seniorenleichtathlet vor dem Stabhochsprung.

Faszination für den Zehnkampf

Auf dem sportlichen Programm stehen heute noch Diskuswurf und Kugelstoßen. Beim Diskuswurf ist Rolf mit seiner Leistung unzufrieden. Die Diskusscheiben fliegen ihm nicht weit genug oder landen außerhalb des gültigen Bereichs. „Oooohhh nein verdammt“, stöhnt er des Öfteren. Für das Kugelstoßen geht Rolf auf einen separaten eigens hierfür angelegten Platz. Auf dem Weg dorthin lässt er seinem Frust über den schlechten Zustand der Sportanlage freies Spiel: „Hier hat sich schon lange keiner mehr gekümmert. Nebenan bauen sie moderne Gebäude. Aber eine einfache Laufbahn und die Zuschauertribünen instand zu halten, scheint zu viel verlangt.“ Das Kugelstoßen verläuft dann nach Plan. Rolf ist mit seinen erzielten Resultaten glücklich und beschließt den Rückweg anzutreten.

Das Wohnhaus des Seniorensportlers liegt nur fünf Gehminuten von der Sportstätte entfernt. Rolf lebt hier seit 25 Jahren mit seiner Frau Karin zusammen. Das Haus steht auf einer Anhöhe in unmittelbarer Waldnähe. Rolf erzählt im kleinen Vorgarten des Hauses von den Anfängen seiner Begeisterung für die Leichtathletik und insbesondere den Mehrkampf. „Als Kind fiel mir in der örtlichen Buchhandlung ein Sportmagazin über den US-Zehnkämpfer Rafer Johnson auf. Ich wollte auch so werden wie der“, schildert er. Die Faszination ist geweckt. Der Vater baut ihm eine provisorische Leichtathletikanlage. Rolf trainiert fleißig und nimmt erfolgreich an Bundesjugendspielen teil. Auch während seines Diplomstudiums der Fächer Physik und Sport in der damaligen Leichtathletik-Hochburg Mainz reißt die Leidenschaft für den Mehrkampf nicht ab. Rolf berichtet ausführlich über seine Berufung in das Trainerteam der spanischen Leichtathletiknationalmannschaft für die Olympischen Spiele 1972 in München. „Der Leiter des Instituts für Sportwissenschaft in Mainz machte mich auf noch unbesetzte Trainerstellen bei den Spaniern aufmerksam und legte ein gutes Wort für mich ein. Die Zusage der spanischen Mannschaft freute mich riesig. Wir trainierten in Barcelona. Es war ein wunderbares Team“, sagt Rolf stolz.

Die Methode Geese

Im Jahr 1973 tritt Rolf in Göttingen eine Stelle als Dozent am Institut für Sportwissenschaft an und betreut in seiner Freizeit unter anderem den späteren Zehnkampf Bronze Medaillen Gewinner Siegfried Wentz. „Die Arbeit mit einem Spitzensportler war mit meiner Stelle als Dozent zeitlich gut zu vereinbaren. Siegfried war ein disziplinierter Sportler mit starken Veranlagungen“, erklärt Rolf. Er arbeitet mit Siegfried Wentz intensiv im Trainingslager auf Lanzarote zusammen. Eine besondere Trainingsmethode sorgt hierbei für Aufmerksamkeit. Rolf lässt Wentz im Sprungbecken eines Freibades mit dem Kopf abwärts das Aufrollen am Stab trainieren. Diese „Methode Geese“ erweckt sogar das Interesse des ZDF, das unter der Leitung von Marcel Reif die Trainingsmethode für eine Reportage filmt. „Das kann ich bis heute nicht verstehen. Es war keine neue Erfindung von mir. Aber den Journalisten gefiel es“, schmunzelt Rolf. Günther Netzer, damals HSV-Manager, wird durch den ZDF-Beitrag auf Rolf Geese aufmerksam und macht ihn zum Fitnesscoach des HSV-Teams. Rolf bleibt sechs Jahre beim Hamburger Sportverein. „Der Fokus lag während dieser Zeit in der Verbesserung der athletischen Fähigkeiten der Spieler. Wir haben mit Medizinbällen und Hanteln trainiert. Einige Fußballer haben besser, andere weniger intensiv mitgearbeitet“, sagt Rolf. Namen nennt er keine.

„Meine Frau ist die bessere Sportlerin“

Für die Wideraufnahme von Rolfs Sportlerkarriere ist ein Ereignis ausschlaggebend. „Als ich gemerkt habe, dass meine Kinder schneller laufen als ich, habe ich wieder angefangen zu trainieren“, erzählt er. Mit 48 Jahren ist Rolf Teilnehmer der EM 1992 in Norwegen. Es ist für ihn ein Sprung ins kalte Wasser. Trotzdem gewinnt er auf Anhieb Bronze. Es folgen Länder und Erfolge auf fast allen Kontinenten. Für Rolf liegt der Reiz nicht ausschließlich im sportlichen Wettkampf, sondern in den zahlreichen Reisen, die er mit seiner Frau unternimmt. So bereist er weite Teile Europas, die Länder Nordafrikas, Nord- und Südamerika und Australien. „Das waren großartige Erlebnisse. Ein Land oder eine Reise hervorzuheben, fällt da schwer“, sagt Rolf. Er möchte weitermachen. Weiter Wettkämpfe bestreiten und weiter auf Reisen gehen. Sein Alter versucht er dabei zu verdrängen.

Ehefrau Karin lauscht währenddessen an der angelehnten Terassentür. Findet seine Frau es gut, dass Rolf noch immer an Wettkämpfen teilnimmt? Die Antwort lautet ja. Sie kann den Ehrgeiz und Spaß am Sport als ehemalige Leistungssportlerin gut nachvollziehen. Im Gegensatz zu Rolf, beginnt sie nicht erst im Alter eine Sportlerkarriere. Karin ist lange Zeit als professionelle Hochspringerin siegreich. Ein Moped-Unfall verhindert eine mögliche Teilnahme an den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles. „Meine Frau ist die bessere und erfolgreichere Sportlerin. Meine Titel und Rekorde werden da nie mithalten können“, gesteht Rolf einsichtig. Kurz darauf kündigt Karin das Abendessen an. Rolf lässt sich entschuldigen. Die Nahrungsaufnahme sei schließlich insbesondere bei Top-Athleten von großer Bedeutung.