Durch den Flur im vierten Stock des Verfügungsgebäudes der Georg August Universität hallt beschwingte Keyboard-Musik. Es ist Montagabend und im Raum VG 4.101 ist eine Probe von Improsant in vollem Gange. Die Tische des Seminarraumes wurden zur Seite geschoben, sodass vorne vor der Tafel eine einigermaßen große freie Fläche entstanden ist. Dort bewegen sich rund zehn junge Menschen wild tanzend, mit kuriosen Bewegungen und teilweise über den Boden rollend im Takt der Musik. Plötzlich Stille, der Keyboarder hat aufgehört zu spielen. Einen kurzen Moment Zögern und dann werden die Menschen auf einmal zu Maschinen. Sirrend, piepsend und pfeifend scannen sie einander ab, bewegen sich mechanisch hoch und runter, bis einer schließlich mit einer seltsam verzerrten Stimme verlauten lässt: „Registriere organische Substanzen!“ Das ist der Moment als der Keyboarder wieder in die Tasten greift und die Gruppe ihren seltsamen Tanz im grellen Licht des Seminarraumes fortsetzt.

„Das ist eine kleine Aufwärmübung“, verrät Bea, Leiterin von Improsant. „Das ist wie Stopptanz mit kurzen Improszenen zwischendurch.“ Improsant – so nennt sich die Theatergruppe um Bea, die seit einigen Jahren die verschiedensten Bühnen in Göttingen und ganz Deutschland bespielt. Das Besondere dabei: es handelt sich nicht um Theater im klassischen Sinne mit vorgegebenen Handlungen und Texten. Beim Improtheater entsteht alles aus dem Moment heraus. Jede Probe, jede Show ist immer eine Premiere. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Schauspielerinnen und Schauspieler nicht vorbereiten. „Wir bauen quasi den Rahmen, einen Fahrplan, was wir machen wollen, und das Bild wird dann an dem Abend der Show gemacht“, erklärt Musiker Lukas. Und das geht nur durch Üben, Reflexion und Austausch, wie die Probe zeigt.

Die Probe an diesem Montagabend ist die letzte vor der Show im Göttinger Kellerclub Nörgelbuff am nächsten Sonntag und an dem ‚Rahmen‘ muss noch gefeilt werden. „Wir brauchen noch eine Idee für die erste Hälfte“, sagt Bea. Fünf Games stellt sie zur Auswahl. Die Wahl der Improsantler fällt auf das Game ‚Held und Gehilfe‘. Die Herausforderung dabei: Der Held muss mithilfe seiner Superkraft einen gestohlenen Gegenstand finden. Sein Gehilfe unterstützt ihn dabei, darf jedoch in der ganzen Szene nur einen Satz verwenden.

Rike, Thius und Xzander stellen in dieser Probe das Schauspiel-Trio dar. Sie stehen von ihren Stühlen auf und stellen sich in die Mitte der freigeräumten Fläche. „Wer soll der Held in dieser Geschichte sein?“, fragt Bea. Alle sind sich schnell einig, dass Rike zur Heldin wird. Ihre Superkraft: Sie kann mit ihrem strahlenden Lächeln die Menschen dazu bringen, sich in Zeitlupe zu bewegen. Im Mittelpunkt der Szene soll eine trockene Scheibe Brot stehen, die jemand noch in seinem Rucksack gefunden hat. „Was ist das Besondere an dieser Scheibe Brot?“, Bea hält den traurig aussehenden Snack in die Luft. „Das ist die älteste Scheibe Brot der Welt“, „Damit kann man durch die Zeit reisen“, „Jesus hat schon davon abgebissen“, kommen sogleich die kreativen Ideen der anderen Crewmitglieder. Etwas überfordert von so vielen Geistesblitzen überlegt Bea kurz und beschließt dann: es handelt sich um die älteste Scheibe Brot der Welt, von der Jesus schon abgebissen hat. Und genau diese wertvolle Brotscheibe hat Bösewicht Thius entwendet. Ein Fall für Heldin Rike und ihren Gehilfen Xzander. Nach einer langen und beschwerlichen Reise durch ein benachbartes Nonnenkloster, durch die Wüste und weitentlegene Orte finden Heldin und Gehilfe den Bösewicht schließlich und können mithilfe ihrer Superkraft die Brotscheibe retten. Lauter Applaus dringt durch den Raum, als die Szene zu Ende ist. Den Crewmitgliedern hat die kurzweilige Szene super gefallen. „Waren da nicht ein paar Längen drin zwischendurch?“, fragt Rike selbstkritisch. Nein, befinden die anderen. Stattdessen loben sie den kreativen Einsatz der Superkraft und die lustigen und verschiedenen Interpretationen des Satzes „Jetzt geht die Party los!“ von Gehilfe Xzander. Einziger Kritikpunkt: Der Heldin wurde kein Name gegeben. „Das können wir Sonntag dann so machen“, schließt Bea das Feedback begeistert.

Für die zweite Hälfte der Show am Sonntag hat sich Bea ein neues Format ausgedacht. Die Show soll sich rund um unliebsame Weihnachtsgeschenke drehen. Dazu soll das Publikum Gegenstände mitbringen, die eine Inspirationsquelle für die Schauspieler von Improsant darstellen. „Das kann zum Beispiel so aussehen“, Bea greift nach einem schwarzen Stoffbeutel und hält ihn sich vor den Körper. Laut erzählt sie, welche Assoziationen ihr durch den Kopf gehen. Der Stoffbeutel könnte zum Beispiel eine Schürze sein oder – sie setzt ihn sich auf den Kopf – eine Perücke mit langen Zöpfen. Alle lachen. Ein Erzähler soll anschließend das Setting der Szene vervollständigen und den Ort und die in der Handlung vorkommenden Personen möglichst detailliert beschreiben. Da stellen sich einige Fragen. Aber Übung macht schließlich den Meister und so entsteht aus einer herkömmlichen Trinkflasche die Idee einer Stadtvilla mit klimaneutralem Marmorboden und aus einem Fahrradrücklicht die Inspiration für einen kleinen Hundewelpen, der adoptiert werden möchte. Die Probe dauert bis tief in die Nacht. Durch das Fenster sieht man bereits den nachtblauen Himmel, der einen krassen Gegensatz zu dem grellen Licht in dem Seminarraum bietet.

Sechs Tage später. Das Nörgelbuff ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Hinten an der Bar stehen einige der Zuschauer. Die Leute sind gut gelaunt und unterhalten sich angeregt. Viele haben eine Fritz Kola oder ein Bier auf ihren Tischen stehen. Gerade ist die erste Hälfte der Show von Improsant vorbei. Viele nutzen die Pause, um draußen kurz frische Luft zu schnappen oder für neue Getränke zu sorgen. Einige legen ihre ungewünschten Weihnachtsgeschenke vorne auf der Bühne ab. Alle zeigen sich begeistert von der ersten Hälfte der Show und reden lachend über ihre Lieblingsszenen. Nach 15 Minuten Pause steigt Thius wieder auf die Bühne. Lukas hat seinen Platz am Keyboard bereits eingenommen und stimmt schwungvoll die Musik an. Lachend und mit den Armen über dem Kopf tanzt Thius über die Bühne, bis die Musik langsamer wird und schließlich ganz aufhört. „Schön, dass ihr alle noch da seid“, begrüßt Thius die Zuschauer zurück, kündigt anschließend die zweite Hälfte der Show an und das gesamte Improsant-Team kommt auf die Bühne.

Die Improsantler nehmen in einer Reihe hinten auf der Bühne Platz. Die Kellerkneipen-Atmosphäre und die roten Säulen inmitten des Raumes tauchen den Raum in ein warmes uriges Licht. Die Schauspielerinnen und Schauspieler mustern die in der Pause abgelegten Gegenstände vor ihnen kritisch, bis Thius schließlich eine Inspiration kommt und er zum ersten Gegenstand greift. Einem kleinen grünen Kaugummi-Automaten. Er nimmt ein weißes rundes Bonbon aus dem Automaten und lässt seinen Gedanken freien Lauf: „Ein Bonbon mit Zucker, nein mit Zuckerguss. Zuckerguss führt zu schlechten Zähnen. Wo hat man schlechte Zähne? Ah, schlechte Zähne im Altersheim!“ Das ist die Inspiration für die nächste Szene. Rike nimmt ihren Stuhl, setzt sich mitten auf die Bühne und macht ein mürrisches Gesicht. Die Erzählerin beschreibt detailliert das imaginäre Heimzimmer, wo Rike, alias die alte Dame, ihren Süßigkeitenvorrat versteckt hat. Das Publikum erfährt, dass die Heimbewohnerin die Zahnpflege nicht mag und keinen Kontakt zu ihrem Sohn hat, der, weil er als Kind immer Süßigkeiten essen musste und dadurch schlechte Zähne hatte, schließlich Zahnarzt wurde und seinem Sohn seinerseits wiederum jegliche Süßigkeiten verwehrte. Das Publikum lacht zwischendurch immer wieder herzlich auf. Von der anfänglichen Unsicherheit am Anfang der Probe vor nicht einmal ganz einer Woche, ist nichts mehr zu spüren. Stattdessen begeistert Improsant das Publikum mit immer neuen überraschenden Handlungen und Witzen.

Am Ende des Abends ist nicht nur das Publikum glücklich, sondern auch die Schauspielerinnen und Schauspieler finden es immer wieder erstaunlich, in welche Richtungen sich Szenen plötzlich entwickeln. „Davon lebt das Impro“, sagt Thius. „Wir überraschen uns auch immer wieder selber.“ Improtheater besteht schlussendlich daraus, dass die Mitspieler gut aufeinander achten und alles in sich greift. „Das ist vor allem eine Sache der Übung“, erklärt Bea. Fehler werden als Geschenke angesehen, beim Impro gibt es kein richtig oder falsch. „Es gibt auch immer wieder unangenehme Situationen, dadurch, dass man eben nicht weiß, was passiert und Herausforderungen entstehen können oder auch jemand dabei ist, der einen in eine unangenehme Situation bringt. Aber wenn man mit Menschen auf der Bühne ist, denen man vertraut, passiert das sehr selten“, fasst Bea es zusammen. Da ist es egal, ob die Szene gerade ernst oder lustig ist oder so schlecht, dass man nur noch über sich selbst lachen kann und damit das Publikum wieder ansteckt. „Impro kann letztendlich jeder“, sagt Bea. Die Frage ist nur, ob man auch damit auftreten will. Zum Spielen und Üben kann es jeder machen und es bringt auch jedem etwas – sei es seine Schlagfertigkeit zu trainieren, das innere Kind in sich zu finden oder um sich aus der eigenen Komfortzone zu befreien. Ein Improkurs hilft sicherlich jedem im Leben.