Diskussion: Ist OER gescheitert?

In unserem letzten Artikel ging es insbesondere um die Vorzüge und Möglichkeiten von den Open Educational Resources, kurz OER, und den Creative Commons-Lizenzen. Doch ungefähr 20 Jahre nach Einführung der Creative Commons und über einem Jahr seit der digitalen Lehre durch die Corona-Krise ist OER immer noch nicht populär. Daher beschäftigen wir uns diese Woche mit der Frage: Ist das Prinzip der OER gescheitert?

Bild von Annett Zobel unter freier Pixabay-Lizenz

An berufsbildenden Schulen kennen gerade mal 30% der Lehrkräfte den Begriff OER. Lediglich die Hälfte davon konnte überhaupt Plattformen zur Suche und Verbreitung von OER nennen (Grimm/Rödel 2020). Das Potenzial der freien Bildungsmaterialien wird lediglich von Interessierten gekannt und genutzt. Dabei hatte die Corona-Krise die Lehrenden doch zur Digitalität gezwungen. Dadurch hätte doch die Verwendung, Teilung und Erstellung oder zumindest die Beschäftigung von digitalen Medien mit offenen Lizenzen notwendig werden müssen. Im Grunde genommen war doch die erzwungene digitale Lehre das Beste, was dem Prinzip OER hätte passieren können. Und doch ist es so, dass man immer noch auf Lehramt studieren oder an der Schule unterrichten kann, ohne ein einziges Mal mit OER in Verbindung zu kommen. Eine weit verbreite Verwendung von freien Bildungsmaterialien bleibt ein Ideal. Natürlich kann argumentiert werden, was denn die Alternative sei? Am Urheberrecht hängt natürlich die eigentliche Bürde und wer sich nicht im Bereich der Illegalität bewegen möchte, sollte mit CC-Lizenzen arbeiten (-> wird hier nochmal erklärt).  Auch Supportmöglichkeiten im Netz gibt es reichlich, um mit Initiativen wie WirLernenOnline, Twillo, OERinfo und den Goldstandart-Texten nur wenige zu nennen. Doch die schrittweise Verbesserung oder gar Revolutionierung des Urheberrechts, die durch die CC-Lizenzen erwirkt werden sollte und seit Jahren erwartet wird, bleibt bisher aus.

Für eine konstruktive Debatte sei nun einmal ehrlich gefragt, ob die offenen Lizenzen durch verschiedene Faktoren einfach nicht massentauglich sind:

Die Lizenzen: So „frei“ – wie man meinen könnte – sind die CC-Lizenzen nämlich genau genommen nicht. Alleine die CC BY-SA-Lizenz bringt einiges an Aufwand und Unsicherheiten mit sich. Denn was bedeutet das Anhängsel „unter gleichen Bedingungen“ jetzt genau? Heißt das, wenn ich ein Bild mit CC BY-SA-Lizenz in mein Video einbette, muss ich mein Video auch unter einer CC BY-SA-Lizenz veröffentlichen? Muss der Urheber oder die Urheberin eines eingebetteten Bildes am Ende in meine Lizenz zum Text? Selbst die CC BY-Lizenz ist unheimlich umständlich, wenn am Ende alle Mitwirkenden plus die vorgenommenen Veränderungen am Original erwähnt werden müssen. Da kommt neben dem eigentlich erstellen Material fast ein eigener Artikel zustande. Nicht zu vergessen sei die Zeit, die die Erstellung eines solchen Artikels benötigt. Am einfachsten sei – und das wird häufig gepredigt -, nur noch CC0 zu verwenden, damit die Nutzung der Materialien möglichst einfach ist. Doch bei mühsam selbst erstelltem Material sogar auf die Nennung des eigenen Namens und jegliche Form des Urheberrechts zu verzichten, ist ein hoher Preis. Dazu kommt, dass man überhaupt nicht mehr in der Hand hat, was mit dem Material passiert: Selbst erstellte Bilder, Zeichnungen und Texte können von allen möglichen Nutzern oder Nutzerinnen genutzt werden und auf die Quelle muss nicht mehr verwiesen werden. Dies stellt einen Verzicht dar, den die Wenigsten eingehen wollen.

Das Finden von Materialien: Wer schon einmal umfangreiche Materialien mit offenen Lizenzen erstellt hat, weiß, wie aufwendig das Finden von passenden Materialien ist. Beispielsweise zum Thema „Social Scoring“ oder „Sender-Empfänger-Modell“ gibt es im Internet viele Bilder, die sich für einen lockeren Unterrichtseinstieg eignen. Grenzt man die Suche jedoch auf Bilder mit freien Lizenzen ein, beginnt eine sehr frustrierende Recherche. Häufig endet diese mit der Verwendung von selbst gemalten bzw. erstellten oder nur halbwegs passenden Materialien. Auch sehen Präsentationen schnell aus wie Kraut und Rüben, da die verwendeten Bilder überhaupt nicht in einem Stil sind und die langen Lizenztexte das Endbild stören.

Die Weiterverwendung: Auch beim Weiterverwenden von Materialien stellen sich viele Fragen: Wie soll ich bei einem Video verwendete Bilder lizenzieren? Darf ich einen Foliensatz, den ich mit Google Präsentationen oder PowerPoint erstellt habe, unter eine freie Lizenz stellen? Darf ich das auch, wenn ich ein vorgefertigtes Layout von diesen Anbietern verwendet habe? Kann ich einen Screenshot unter freier Lizenz lizenzieren und wenn ja wie? Wen gebe ich bei einem Screenshot als Urheber oder Urheberin an? Hat eine Verlinkung oder Einbettung von Materialien Auswirkungen auf meine Lizenz, die ich verwenden möchte? Um Antworten auf all solche Fragen zu finden, braucht es ganze Fortbildungen. Und selbst nach all den Stunden, die für die Recherche geopfert werden mussten, muss man bei der Weiterveröffentlichung schlussendlich Mut zur Lücke haben. Im Endeffekt sind nämlich bei vielen Materialien individuelle Einzelentscheidungen gefordert. Dieser Unsicherheit wollen sich aber die wenigsten hingeben.

Bisher scheinen OER und offene Lizenzen zu sehr mit Verzicht, Aufwand und Unsicherheit verbunden zu sein. In der Abschluss-Bilanz von OERinfo vom Oktober 2020 heißt es: OER setze sich durch, es brauche aber mehr Fortbildungs- und Supportmöglichkeiten für Lehrkräfte. Jedoch bleibt fragwürdig, ob selbst mit den geforderten Möglichkeiten OER unter den gegeben Bedingungen irgendwann einmal massentauglich wird.

Jedoch gilt immer noch: Wikipedia funktioniert und das mit freien Lizenzen. Bleibt also Grund zur Hoffnung? Kommt die bisher ausgebliebene Revolution noch? Wenn ja, warum? Oder braucht es neue, andere Lösungen? Wenn ja, wie müsste die aussehen? Lassen Sie uns gemeinsam diskutieren.