Hörst du das? Ich bin ja eine große Freundin der Musik. Schon immer gewesen und werde es auch immer sein. Beim Verlassen meiner Haustür dann das: Ein Konzert. Die Vögel haben sich einiges zu erzählen, so aufgeregt wie sie zwitschern. Dazwischen noch das Wiehern des Pferdes meiner Nachbarn. Einfach herrlich. DAS ist Musik in meinen Ohren.

Es geht noch weiter. Meine Straße ist sehr klein. Hier stehen insgesamt nur fünf Häuser. Ich laufe ungefähr hundert Meter und schon stehe ich an der Fulda. Der Fuldaradweg R1 führt direkt an meinem Haus vorbei. Im Sommer ist hier richtig Betrieb. Vor allem am Wochenende. Gerade bin ich aber allein hier. Nur die Vögel singen um mich herum. Ich kann sie nicht sehen. Dafür aber umso deutlicher hören. Es ist Januar und relativ kalt. Ich atme tief ein. Beim Ausatmen bildet sich eine weiße Dunstwolke vor meinem Gesicht. Die Luft ist frisch. Und sie riecht so gut. Der Geruch lässt sich kaum beschreiben. Ein reiner Duft, leicht feucht gemischt mit dem Geruch von nasser Erde und mit Tau bedecktem Gras. Ich atme noch einmal tief ein. Kann mich kaum satt riechen an diesem Duft.

Ich stehe nun direkt am Wasser. Links und rechts von mir führt ein Weg entlang. Ich muss mich gleich entscheiden, welchen Weg ich nehme. Aber erst einmal ein Blick auf die Fulda. Der Strom des Flusses ist sehr stark. Das Wasser steht hoch und ist leicht bräunlich. Wenn man ganz genau hinhört kann man das Plätschern des Flusses wahrnehmen. Auf der anderen Seite ist ein Wald. Die Bäume sind noch sehr kahl, es ist schließlich Januar. Schaut man genauer hin kann man die einzelnen Äste zählen. Zwischen Wald und Fluss befindet sich eine Weide. Sie geht direkt bis ans Wasser. Am Ufer sieht man noch ein paar weiße Stellen. Kleine Erhebungen auf der sonst sehr grünen Wiese. Die Überreste des Schnees, der dort noch vor ein paar Tagen gelegen hat. Normalerweise stehen dort Pferde, aber heute ist es wohl zu kalt. Die Wiese sieht fast schon unschuldig aus. Ein unberührter Fleck Erde. Dahinter die kahlen Bäume, die diesen schönen Ort schützen.

Landleben bedeutet für mich, die Einwohner des Dorfes gut zu kennen. Sich mit ihnen über alle möglichen Belange auszutauschen und sich in schweren Situationen gegenseitig zu helfen.

DORIS GÜNTHER, 84

Ich habe mich entschieden den rechten Weg zu nehmen. Er führt vom Radweg ab. Der Boden ist sehr steinig. Die Spitzen der Steine bohren sich in meine Schuhsohlen, massieren mir bei jedem Schritt die Füße. Der Fluss ist jetzt auf meiner linken Seite. Es gibt eine kleine Anlegestelle für Boote. Zwischen den vielen Büschen sieht man sie erst auf den zweiten Blick. Dort kann ich jetzt direkt bis zum Wasser vordringen. Ich hocke mich hin und halte meine Hand hinein. Das Wasser ist eisig. Es schmiegt sich ganz langsam um meine Finger, sie werden förmlich von der Kälte umarmt. In diesem Moment kommt die Sonne langsam hinter den Wolken hervor. Das Braun des Wassers intensiviert sich sofort, leuchtet richtig auf. Das Licht der Sonne schimmert ganz leicht an der trüben Oberfläche. Ich gehe weiter, bevor mir die Hand abfriert. Im Sommer wäre ich sofort ins Wasser gesprungen. Und wahrscheinlich wäre ich auch nicht die Einzige gewesen. Viele Menschen zieht es bei warmen Wetter runter an den Fluss. Vorbei an der Anlegestelle verdichtet sich das Gestrüpp vor dem Wasser. Man kann den Fluss jetzt nur noch erahnen. Er ist kaum noch zu sehen. Ab und an kann man zwischen den Ästen hindurchlinsen und die Bewegung des Wassers wahrnehmen. Hören kann man es auch. Allerdings nur sehr leise. Ein Rauschen im Hintergrund. Ich muss mich konzentrieren, um es wahrzunehmen.

Rechts von mir reihen sich kleine Gärten aneinander. Einer dieser Gärten gehört meinen Nachbarn. Sie sind dort gerade mit ihrem Hund. „Hallo Sarah!“, ruft mir meine Nachbarin zu. Ich nähere mich ihrem Gartenzaun. Der Garten liegt etwas am Hang. Oben auf dem Hang steht eine kleine Hütte. Vor der Hütte steht eine Sitzecke. Man kann sie allerdings nur erahnen, da sie von einer kleinen Hecke umrahmt wird. Es sieht wirklich gemütlich aus. Fast schon wie ein kleines Paradies. Ich grüße sie zurück, denn das macht man so, wenn man auf dem Dorf wohnt. Man kennt seine Nachbarn. Man unterhält sich mit seinen Nachbarn. Man weiß wie es den Nachbarn geht. Alle kümmern sich umeinander. DAS macht für mich das Leben hier so lebenswert. Und natürlich die kostenlosen Konzerte der Natur.


Anna (Name geändert) und ich sprechen ein wenig miteinander. Sie erzählt mir von ihrer anstrengenden Woche bei der Arbeit und regt sich über einige ihrer Kund*innen auf. Auch das macht man so auf dem Dorf. Man kotzt sich einfach mal so richtig schön bei den Nachbarn aus. Wem soll man es auch sonst erzählen? Ich weiß nicht mal genau was sie arbeitet. Frage aber auch nicht genauer nach. Vielmehr interessiert mich, was ihr am Leben hier besonders gut gefällt. Ich frage sie also: „Anna, warum lebt ihr eigentlich auf dem Land?“. „Nun ja,…“, sagt sie, „Karsten und ich lieben die Natur und wir haben einen Hund. Wir verbringen jede freie Minute im Garten. Und der Blick aufs Wasser ist gratis.“ Sie lacht, als sie das sagt. Ich verabschiede mich und gehe weiter.
Sie hat recht. Der Ausblick ist unbezahlbar. Wir haben ihn gratis. Ich entferne mich jetzt etwas vom Wasser und gehe in Richtung Wald. Ich passiere noch ein paar Gärten und Häuser. Der Weg ist mittlerweile wieder geteert und nicht mehr so steinig. Schade eigentlich. Die Massage hat doch ganz gut getan. Jetzt vorbei am Friedhof und nur noch den Berg hoch, dann bin ich schon im Wald.

Der Wald | Foto: Sarah Siering

Die Sonne scheint mittlerweile richtig intensiv. Der Himmel strahlt mich förmlich im hellen Blauton an. Die Bäume um mich herum leuchten. Es ist wirklich magisch. Der Boden ist noch sehr matschig vom getauten Schnee und mit nassem Laub bedeckt. Man läuft ganz weich, fast schon federnd auf dem Weg. Es riecht nach feuchten Blättern und Erde. Ab und an zieht ein sanfter Wind durch die Bäume. Die Äste fangen ganz leicht zu rascheln an. Der Wald wirkt dadurch noch lebendiger. Sonst ist es ruhig. Keine lärmenden Autos. Kein Stimmengewirr. Nur der Klang der Natur. Meine Freunde fragen mich immer wieder: „Sarah, warum bist du wieder zurück aufs Land gezogen?“ Bei dem Ausblick ist die Antwort doch klar, oder?

Der Blick auf die Wiesen und Felder | Foto: Sarah Siering

Auf meiner linken Seite ist nun wieder der Fluss zu sehen. Der Wald liegt erhöht, somit habe ich durch die Bäume hindurch einen atemberaubenden Blick auf den Fluss. Dahinter ein weiter Blick auf Felder und Wiesen. Alles wird vom Licht der Sonne angestrahlt. Der Weg geht jetzt noch ein ganzes Stück so weiter. Auf der rechten Seite der tiefe Wald, links von mir der Fluss. Ich gehe und gehe bis ich wieder auf dem Radweg rauskomme. Ich befinde mich nun auf der anderen Seite des Flusses. Eine Brücke verbindet beide Seiten.

Der Blick auf die Fulda. Im Hintergrund die Brücke. | Foto: Sarah Siering

Als ich noch in der Stadt lebte habe ich immer wieder nach Orten gesucht, die diesem gleichkommen. Die Natur hat etwas sehr friedliches. Die Zeit wird förmlich angehalten. Der Alltagsstress ist wie weggeblasen hier draußen. Das Leben vergeht langsamer und bewusster. Es zieht nicht so an einem vorbei. Das hatte ich nicht in der Stadt. Dieses Gefühl von Ruhe und Geborgenheit. Gerade gibt es nur mich und die Natur. Keine Menschenmassen, kein Lärm, kein nerviger Verkehr. Weder hier im Wald, noch vor meiner Haustür. Die Menschen, die ich draußen treffe, kenne ich fast alle. Man grüßt sich. Manchmal kommt man ins Gespräch. Die Menschen sind immer freundlich. Das Leben ist nicht anonym. Du kennst die Menschen und sie kennen dich. Die Nachbarschaft ist wie eine große Familie. Die Häuser haben maximal zwei Klingelschilder. Hochhäuser gibt es nicht.

Landleben bedeutet für mich ruhig zu leben, fernab von dem Lärm und der Dynamik der Stadt. Am meisten am Landleben genieße ich die Ernte im Sommer.“

PRISCA AULENBACHER, 20

Ich befinde mich nun auf dem Rückweg nach Hause. Auch das ist so schön an meinem Wohnort. Jeder Weg führt irgendwie ans Ziel. Jeder Weg befindet sich in der Natur. Von meiner Haustür bis zum Wasser sind es hundert Meter. Ein paar Minuten gehen und ich bin im Wald. Ich mache eine Rundgang und komme wieder vor meiner Haustür an. Um mich herum sehe ich wieder die Felder. Alles ist schön grün. Der Fluss wieder links von mir fließt friedlich vor sich hin.

Ich biege nun in meine Straße ein und gehe auf mein Haus zu. Meine Nachbarin Ilse ist gerade auf ihrem Balkon. Sie genießt wohl auch das schöne Wetter. Ich rufe ihr von der Straße aus zu und winke: „Hallo Ilse!“. Wir haben uns länger nicht mehr gesehen. Sie ist auch schon über 80 und war eine ganze Zeit lang im Krankenhaus. Die ganze Straße war besorgt um sie. Ich eingeschlossen. Denn so ist das auf dem Land. Man kennt seine Nachbarn. Man sorgt sich um seine Nachbarn.

„Wie schön, dass du wieder zu Hause bist.“, sage ich. „Wie geht es dir denn?“. „Ach Sarah,…“ sagt sie, „es muss ja.“

Ich muss ein wenig schmunzeln. Genau das hätte meine Oma auch gesagt. Wenn man sie fragt wie es ihnen geht, dann muss es immer irgendwie gehen. Das Gespräch ist damit auch beendet. Man muss es dann auch nicht übertreiben. Sie ist wieder da und ich weiß wie es ihr geht. Dank des Buschfunks hier bei uns weiß es spätestens am Abend auch die ganze Straße. Denn auch das gehört zum Landleben dazu. Es wird über alles geredet und jede*r weiß über dich bescheid. Anonymität ist ein Fremdwort und das ist auch gut so.

Fragt man mich also was für mich das Landleben so besonders macht ist die Antwort eigentlich ganz einfach: Die Gemeinschaft in der Nachbarschaft. Das Familiäre. Die Ruhe. Die Nähe zur Natur. Das Wissen nicht allein zu sein. Der letzte Punkt mag momentan noch nicht so entscheidend bei mir zu sein. Mit 80 Jahren werde ich das aber sicherlich besonders zu schätzen wissen.

Du weißt jetzt wie ich hier lebe und was das Leben für mich ausmacht. Ich frage also noch einmal: Und? Wie schön wohnst DU?