Es ist 20:09 Uhr, als das schrille Türklingeln durch die kleine Wohnung nahe des Göttinger Nordcampus hallt. Jan D. rückt gerade den letzten Stuhl in seinem Wohnzimmer zurecht und blickt überrascht zur Uhr: „So pünktlich ist doch sonst nie jemand.“ Eilig huscht er durch den schmalen Flur zur Haustür und drückt den Türöffner, welcher mit einem kurzen Summen das Öffnen der Haustür im Erdgeschoss bestätigt. Er hat für heute ab 20 Uhr seine Freunde eingeladen, um gemeinsam mit ihnen seinen 22. Geburtstag zu feiern. Jedenfalls die Freunde, die bereits ihre dritte Coronaimpfung erhalten haben und außerdem dazu bereit waren, vor der Feier einen Corona-Selbsttest zu machen. „Ich will kein Risiko eingehen.“ ,erklärt Jan nachdrücklich, als er die Haustür öffnet und gespannt in den Hausflur horcht. Wer mag wohl der erste Gast sein? In seinem Freundes- und Bekanntenkreis habe es in der letzten Zeit einfach sehr oft Infektionen gegeben. Vor allem die Omikron-Variante, welche seit Dezember 2021 in Deutschland ihr Unwesen treibt, möchte er daher nun auf keinen Fall unterschätzen. „Geimpft sein heißt nicht, dass man auch 100 % sicher ist.“, weiß Jan und deutet mit einer kurzen Handbewegung auf ein kleines Regal neben der Haustür. Eine Flasche Desinfektionsmittel lädt dort zur Benutzung ein, ein selbstausgedruckter QR-Code an der Wand darüber zum Scannen. Zwar dürfen wegen der seit Weihnachten in Niedersachsen geltenden dritten Corona-Warnstufe sowieso nur zehn Personen kommen, doch findet er die Kontaktverfolgung via QR-Code trotzdem als angebracht. „Better safe than sorry, sage ich immer“.

„Better safe than sorry, sage ich immer“

Jan D., 22

Es nähern sich Stimmen aus dem Hausflur und zwei grinsende Personen erscheinen auf der Treppe. Es sind Lukas, ein Kommilitone, den Jan schon seit dem ersten Semester kennt, und seine Freundin Hannah. „Happy Birthday!“, gratuliert Lukas und schlägt kurz mit Jan ein, bevor er die Wohnung betritt. Seine Freundin folgt ihm ebenfalls gratulierend und überreicht einen großen mit Schokolade überzogenen Kuchen an den Gastgeber. Zwei brennende Kerzen in Form einer 22 zieren den Kuchen, woraufhin Jan tief Luft holt und beide mit einem Mal auspustet. „Ich hoffe er schmeckt dir.“, fügt Hannah noch hinzu, bevor sie auch schon beginnt, sich die Schuhe von den Füßen zu streifen. Jan bedankt sich begeistert, hält Hannah dann jedoch in Ihrer Bewegung auf. Schuhe ausziehen sei heute nicht nötig, später müsse sowieso geputzt werden. ,,Dafür könnt ihr aber einmal den Code hier scannen.“ Ohne weitere Erklärungen abzuwarten, zücken beide Gäste sofort ihr Handy und scannen den ausgedruckten QR-Code. Diese Art der Kontaktverfolgung kennen sie beide inzwischen schließlich nicht nur aus Restaurants oder Bars, sondern auch aus ihrem privaten Umfeld. „Das macht es bei Partys oder Feiern einfach leichter“, findet Hannah, die nun auch zum bereitstehenden Desinfektionsmittel greift. „Es ist gut, dass Jan das so ernst nimmt.“, meint sie außerdem, während sie die durchsichtige Flüssigkeit großzügig auf ihren Handinnenflächen verteilt. Erst letzte Woche habe sie von einer guten Freundin gehört, die sich auf einer kleinen Geburtstagsfeier angesteckt hat. „Ob zehn Personen oder 100, anstecken kann man sich immer.“ Sie reicht die kleine Flasche Desinfektionsmittel an ihren Freund weiter, welcher angewidert die Nase rümpft: „Jan du alter Schwabe, muss es denn wirklich immer das Günstigste sein? Das stinkt wie die Pest.“ „Ich weiß net, wovon du sprichst“, lacht Jan mit gespielt übertriebenen schwäbischen Dialekt, bevor er in die Küche neben dem Wohnzimmer verschwindet. Jan kommt ursprünglich aus Stuttgart und lebt nun seit drei Jahren in der niedersächsischen Studentenstadt. Richtig warm geworden mit dem Hochdeutschen sei er aber bis heute noch nicht. 

„Was möchtet ihr trinken?“, fragend lugt der Gastgeber hinter der geöffneten Kühlschranktür hervor. In der kleinen Küche, die gerade genug Platz für die drei Freunde bietet, stapeln sich neben zwei Bierkisten auch mehrere Sixpacks Softdrinks. Auf dem Küchentresen gegenüber des Kühlschranks warten außerdem zwei Flaschen Wodka und eine Flasche Korn auf ihre Öffnung. Der sporadisch ausgefüllte Putzplan auf dem Whiteboard an der Wand sowie mehrere benutzte Teller in der Spüle verraten, dass es sich hierbei um eine typische WG-Küche handelt. „Tim ist übrigens gar net da, er musste zu seiner Freundin, die hat sich irgendwie beim Volleyball den Fuß verletzt.“, erläutert Jan kurz das Fehlen seines Mitbewohners. Seit knapp zwei Jahren wohnen die beiden Studenten nun zusammen und abgesehen vom Thema Fußball – Jan ist VFB Stuttgart Fan, Tim VFL Osnabrück Fan – verständen sie sich auch eigentlich ganz gut. „Ich fange erst mal mit Bier an.“, beschließt Lukas, während Hannah sich eine Colaflasche aus dem Kühlschrank angelt. „Ich hätte sonst auch noch Wein da.“, bietet Jan ihr an, während er suchend den Raum abscannt und dann zielsicher auf das wackelige Regal neben der Tür deutet. Hinter einer Packung Reis und zwei Konservendosen lassen sich zwei gefüllte Glasflaschen erkennen. Irritiert greift Hannah nach einer der Flaschen und grinst kopfschüttelnd: „Das ist Sekt, Jan.“ Ungläubig greift der Angesprochene nach der Flasche und bestaunt das Etikett. Das allgemeine Lachen wird erst nach einigen Sekunden durch die laute Türklingel unterbrochen.

Jan lässt den Sekt Sekt sein und schiebt sich an seinen Freunden vorbei in den Flur. Als er die Tür öffnet, wartet schon Julia, eine Freundin über mehrere Ecken, mit einem breiten Grinsen und einer großen Tasche unter dem Arm auf ihn: „Herzlichen Glückwunsch und hallo, hallo!“ Sie winkt auch an Jan vorbei zu den beiden anderen Gästen, die in der Küchentür stehen, zögert jedoch einzutreten. Sie habe es leider nicht mehr zum Testzentrum geschafft und war unsicher, ob auch ein Selbsttest genügt. „Na klar, ich wollte sowieso nur einen Selbsttest.“, beruhigt Jan sie, woraufhin Julia erleichtert die Wohnung betritt. Sie sei in letzter Zeit auf so viele Geburtstagsfeiern mit unterschiedlichen Coronaregelungen eingeladen worden, dass sie inzwischen einfach nicht mehr wisse, wer nun was genau voraussetzt. „Willst du den Test sehen?“, sie beginnt schon ihre prallgefüllte Tasche zu durchsuchen, doch Jan winkt eilig ab. Er wolle seine eigenen Freunde auf keinen Fall kontrollieren, sondern sei sich bei ihnen schon sicher, dass sie die Sache ernst nehmen. „Aber klar doch, das ist ja wohl selbstverständlich.“, stimmt Julia ihm zu und stellt ihre Tasche neben dem Regal mit dem Desinfektionsmittel ab. Jan kann sie gerade noch auf den QR-Code über dem Regal aufmerksam machen, da klingelt es schon wieder. Die nächsten Gäste betreten die Wohnung: Begrüßung, QR-Code, Desinfektionsmittel. Der Gastgeber scheint mit der Prozedur langsam vertraut.

Als Jan D. das nächste Mal Zeit findet, auf die Uhr zu blicken, nähert sich der kleine Zeiger bereits gefährlich der Elf. „Gastgeber zu sein, ist manchmal auch ganz schön stressig.“, stellt er fest, als er mit zwei Bier in der Hand das Wohnzimmer betritt. Dort tummeln sich inzwischen seine neun Gäste, welche sich zu prosten und angeregt über die neuste Folge „Der Bachelor“ diskutieren. Unter die lebhaften Stimmen mischt sich die eingängige Melodie eines Popsongs, der aus der kleinen Musikbox in der Ecke schallt. „Die Kandidaten sind doch eh alle von RTL gekauft.“, ist sich Lukas sicher, der gemeinsam mit seiner Freundin im Arm auf dem schwarzen Sofa in der Ecke des Raumes sitzt. Vor dem Sofa steht ein kleiner Tisch, auf dem sich neben zahlreichen Gläsern und Flaschen auch eine große Schüssel Chips findet. „Und ihr Mädels glaubt den ganzen Schwachsinn auch noch“, fährt Lukas fort, wofür er von seiner Freundin einen kleinen Ellbogenstoß in die Seite kassiert. Julia, die sich wie die anderen Gäste auf einen der Stühle um den Tisch herum gesetzt hatte, blickt ihn empört an: „Du bist doch nur beleidigt, dass wir Mädels dich nicht mit einladen, wenn wir zusammen diesen Schwachsinn gucken“. Jan lacht amüsiert, während er das eine Bier aus seiner Hand an einen seiner Gäste weitergibt und sich mit dem anderen zu Hannah und Lukas auf das Sofa gesellt. Er könne auf jeden Fall zugeben, dass es ihn persönlich treffe, dass er bei diesen Mädelsabenden nicht dabei sein dürfe. Bevor das Thema weiter vertieft werden kann, springt ein Gast auf und schaut motiviert in die Runde: „Wer hat Bock auf Beerpong?“ Es folgt unsicheres Schweigen, bevor Jan das Wort ergreift: „Ich weiß nicht, dann müssten wir alle aus den gleichen Bechern trinken. Wäre nicht so Corona-Safe“. Zustimmendes Gemurmel macht die Runde und der vorhin noch so überzeugte Gast lässt sich bedröppelt auf den Stuhl zurückfallen. Alle nippen stumm an ihrem Getränk, während Abbas Dancing Queen aus der Musikbox dröhnt. Man vergesse einfach so schnell, dass dieses Virus überhaupt existiert, wenn man erst einmal Spaß hat, findet auch Jan und greift nach den Chips. „Oder man will es einfach mal vergessen, weil man keinen Bock mehr hat.“, wirft Hannah ein, während sie ihm andeutet, die Chips gleich an sie weiterzugeben. Viele der Gäste können sich gar nicht vorstellen, ohne Corona zu studieren, geschweige denn zu feiern. Sie haben ihr Studium mit dem Virus begonnen und werden es, so wie es derzeit aussieht, auch mit dem Virus beenden. Die Universität von innen gesehen haben bisher nur die wenigsten. Aber viel schlimmer als die andauernde Distanzlehre seien für die meisten sowieso eher die Einschränkungen im Privatleben. „Es macht keinen Spaß, jeden Geburtstag aufs Neue zu entscheiden, wen man jetzt einladen kann und wen nicht. Man will einfach mal wieder mit allen feiern.“, gibt Lukas zu. Er finde es einfach unfair, dass ihre Jugend nun so unter dem Virus leiden müsse, verstehe aber auch die Notwendigkeit der strengen Beschränkungen. „Und was wenn wir stattdessen den Trinktisch nehmen? Dann haben wir auch ein Trinkspiel, aber jeder kann aus seinem eigenen Glas trinken?“, Julia zeigt zu dem kleinen Ikea-Beistelltisch in der Ecke des Wohnzimmers, auf dessen weiße Oberseite mit Edding ein Trinkspiel gezeichnet wurde. Seit seinem Einzug in die WG frage Jan sich schon, wer das gewesen ist, denn den Tisch habe er bereits so in der Wohnung vorgefunden. Julias Vorschlag wird mit Begeisterung angenommen und schnell werden Stühle gerückt und Tische getauscht, sodass der Trinktisch nun in ihrer Mitte steht. Die freudigen Stimmen der Feiernden übertönen nun wieder die Musik und lassen das Coronavirus mit seinen Beschränkungen und seiner Gefahr in den Hintergrund rücken.

Die Gäste sind weg | Foto: Friederike Geesen

„Cool, dass ihr da gewesen seid.“, verabschiedet sich Jan im Flur von Hannah und Lukas, seinen beiden letzten Gästen des Abends. Ihr Angebot ihm noch aufräumen zu helfen, lehnt er dankend ab, dann schließt sich auch schon die Haustür und Ruhe kehrt in der Wohnung ein. Geschafft schlurft er zurück ins Wohnzimmer und beschaut das Chaos, welches seine Gäste hinterlassen haben: Leere Bierflaschen und Gläser stehen auf dem Tisch verteilt, einige halbgeleerte Chipstüten und Schokoladenverpackungen liegen auf dem Boden und sogar zwei FFP-2-Masken scheinen vergessen worden zu sein. Es habe sich für ihn eigentlich fast wie ein normaler Geburtstag angefühlt, rekapituliert Jan, während er die Atemschutzmasken vom Boden pflückt und in den Müll bringt. Nur diese Masken würden ihn nun wieder an das Virus erinnern. „Auch wenn Beerpong net drin war, war es doch trotzdem ein entspannter Abend.“, ist Jan überzeugt. In der derzeitigen Pandemiesituation, mit Impfung und günstigen Selbsttest seien Feiern im kleinen Rahmen für ihn jedenfalls sehr gut umsetzbar. Zügig stapelt er einige Gläser ineinander und trägt die gewagte Konstruktion eilig in die Küche. Zum Glück habe sich seine WG eine Spülmaschine angeschafft, denn auch bei nur zehn Personen wäre es sonst ganz schön viel Arbeit, alles abzuspülen. Ein Blick auf die Uhr, die inzwischen schon fast drei Uhr morgens zeigt, verrät, dass es aber trotzdem eine kurze Nacht für ihn wird. Für morgen früh hat sich schließlich bereits seine Familie angekündigt.