Das "Löwenstein" und die neue Synagoge in der Roten Straße 28

Um 18 Uhr beginnt die Verabredung mit Eva Tichauer Moritz, der Vorsitzenden der „Jüdischen Kultusgemeinde für Göttingen und Südniedersachsen e.V.“. Der Ort ist, wie bei jedem Treffen mit ihr, das „Löwenstein“. Es ist sowohl ein jüdisches Restaurant als auch die zentrale Begegnungsstätte für Göttingens jüdisches Leben und über der Synagoge in der Roten Straße gelegen. Es wird von der Kultusgemeinde betrieben.

Sobald die Tür aufgeht, schlägt einem eine warme und herzliche Atmosphäre entgegen. Der Raum ist in rot-orangenen Farbtönen gehalten, die der Begegnungsstätte einen sonnigen Touch geben. Eva Tichauer Moritz erwartet mich bereits. Sie bittet mich zu „Erics Tisch“. Es ist ein großer abgerundeter Tisch, der sich von den viereckigen Zweier- oder Vierertischen im restlichen Restaurantbereich abhebt. Er steht etwas abseits gelegen und ist mit verschiedenen Blumen geschmückt. In der Mitte steht, statt der Platznummer, ein Bild von Eric. Eric ist ein Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde gewesen, der vor einigen Jahren sehr jung gestorben ist. Mit diesem Tisch aus seiner damaligen Wohnung möchte Eva Tichauer Moritz ihm ein Andenken Mitten in den Räumlichkeiten der Gemeinde wahren, in der er so gerne ein und ausgegangen ist. Diese Geste wirkt sehr herzlich und liebevoll. Im Hintergrund spielt der CD-Player die fröhlichen Töne eines typischen Klezmer-Orchesters. Neben den sonnigen Farbtönen im Raum ist gerade die Musik dafür verantwortlich, dass man sich heimisch und herzlich aufgenommen fühlt. Jüdisches Leben ist wieder ein fester Bestandteil Göttingens. Man spürt es, wenn man in den Räumlichkeiten der Kultusgemeinde ist. Das war nicht immer so. Es war ein langer Weg voller harter Arbeit, an dem Eva Tichauer Moritz entscheidend mitgearbeitet hat. Denn nach dem Holocaust gab es in Göttingen kein sichtbares Judentum mehr.

Eva Tichauer Moritz im Februar 2017 | Foto: Bestand von Eva Tichauer Moritz
Eva Tichauer Moritz im Februar 2017 | Foto: Bestand von Eva Tichauer Moritz

Doch 1975 emigrierte die deutsch-chilenische Jüdin Eva Tichauer Moritz nach Deutschland. Ihre Eltern wanderten in den 1930er-Jahren von Deutschland nach Chile aus, um den immer stärkeren Schikanen des NS-Regimes zu entkommen. 1944 in Chile geboren, verbrachte sie die ersten dreißig Jahre ihres Lebens in der Hafenstadt Valparaíso. Sie studierte, heiratete und bekam zwei Kinder. Doch mit dem Putsch des faschistischen Generals Augusto Pinochet änderte sich ihr Leben in Chile schlagartig. Eva Tichauer Moritz musste mit ihrem Ex-Mann und den beiden gemeinsamen Kindern vor der Militärjunta fliehen. Eigentlich wollte sie damals unter keinen Umständen in das Land der Täterinnen und Täter emigrieren. Doch das Schicksal zwang sie. Da Eva Tichauer Moritz und ihr Mann in regierungskritischen Studentengruppen aktiv waren, war ein Leben in Chile unter Augusto Pinochet nicht mehr sicher. Dann kam ausgerechnet von der Bundesrepublik Deutschland das Angebot einzureisen, dreißig Jahre, nachdem im mörderischen Holocaust von eben jenem Land über sechs Millionen Jüdinnen und Juden in den Gaskammern der Vernichtungslager ermordet worden waren. Vor allem zum Schutze ihrer Kinder und damit ihr Mann aus chilenischen Konzentrationslagern heraus gelassen wurde, ging Eva Tichauer Moritz mit ihrer Familie dann doch nach Deutschland.

Ihre ersten Jahre in Deutschland waren wenig jüdisch geprägt. Nach einer kurzen Station in Hamburg ging es dann nach Göttingen. Eva Tichauer Moritz bekam eine Stelle als Dozentin am Romanischen Seminar der Georg-August Universität Göttingen.

1979 wurde die amerikanische Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Begleitet wurde die Präsentation von heftigen gesellschaftlichen Diskussionen, da dieses Verbrechen in seinen Details trotz 68er-Bewegung weitestgehend ein Tabu blieb. Auch Eva Tichauer Moritz bezeichnet die Ausstrahlung der Serie als ihre persönliche Zäsur bezüglich ihrer jüdischen Identität. Zwei Kollegen im Romanischen Seminar stellten nämlich vor ihren Augen die Unschuld der Jüdinnen und Juden am Holocaust infrage. Sie war schockiert. Bisher hatte sie ihre jüdische Herkunft und Identität in der Öffentlichkeit bedeckt gehalten. Doch jetzt „outete“ sie sich als jüdisch und wehrte sich gegen die Behauptungen ihrer Kollegen. Mit einem Lächeln erzählt Eva Tichauer Moritz von den komischen Gesichtsausdrücken ihrer Kollegen. Es war ein Sieg auf ganzer Linie.

Pünktlich zur Zäsur wird unser Gespräch kurz unterbrochen. Sie hat einen Tee bestellt, der in „ihrem“ Becher serviert wird. Es ist ein großer weißer Keramikbecher, der mit den Abbildungen von Musikinstrumenten verzirrt ist. Eva Tichauer Moritz erzählt, dass sie ihren Tee immer aus diesem Becher trinkt, wenn sie im „Löwenstein“ vorbeischaut. Ich habe grünen Tee mit Ingwer bestellt und eine Portion Hummus mit Brot. Es passt zur Atmosphäre. Wir machen kurz Pause. Doch dann geht es weiter. Schließlich stehen wir gerade erst am Anfang. Die Renaissance des jüdischen Lebens in Göttingen hatte erst mit der Holocaust-Serie begonnen.

Schon kurze Zeit vor der Ausstrahlung besuchte Eva Tichauer Moritz zu den Feiertagen Jom Kippur und dem Neujahrsfest Rosch ha-Schana die jüdische Gemeinde in Hannover. Sie bezeichnet sich heute rückblickend als „Drei-Tage-Jüdin“. Nur zu diesen Festlichkeiten ging sie in die Synagoge. Ansonsten war sie dort nicht präsent, ähnlich wie die „U-Boot-Christen“, die nur an Heiligabend und vielleicht noch an Ostern in die Kirche gehen. Eine große Rolle spielte damals das Judentum in ihrem nicht. Dann schloss sie sich aber einer Frauengruppe an, die sich regelmäßig in den Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde in Hannover traf. Mehrere waren Frauen, die sich vom Judentum entfernt hatten. Dort hielten sie gemeinsam Lehrstunden ab. So kam Eva Tichauer Moritz Schritt für Schritt zurück zum Judentum. Es wäre eine schöne Zeit gewesen, berichtet Frau Tichauer Moritz. Sie hätte selten wieder solche schönen, intellektuellen und anregenden Diskussionen über jüdische Theologie und Lebensweise erlebt. Der Lebensmittelpunkt ihrer Familie war aber Göttingen, weshalb in ihr der Wunsch aufkam, vor Ort eine jüdische Gemeinde ins Leben zu rufen. Sie wünschte sich für ihre Familie ein jüdisches Leben, wie sie es in ihrer Kindheit in Valparaíso erlebt hatte. Dort waren ihr sie mit ihrer Familie ein aktiver Teil der jüdischen Gemeinschaft.

Die Ausgangssituation in Göttingen war zunächst sehr mager. Nur vereinzelte Jüdinnen und Juden ohne Familie konnten von Eva Tichauer Moritz ausfindig gemacht werden. Sie organisierte ein erstes Treffen. Aus einem Treffen wurden mehrere. Schritt für Schritt wuchs die Gruppe fester zusammen. Sie begannen auch den Schabbat gemeinsam zu zelebrieren. Nach einiger Zeit ging Eva Tichauer Moritz zum Rabbiner in Hannover und fragte ihn, ob er eine Gemeindegründung in Göttingen unterstützen würde. Er zeigte sich zunächst aufgrund der geringen Anzahl aktiver Jüdinnen und Juden skeptisch. Davon ließ sich Eva Tichauer Moritz in Göttingen aber nicht unterkriegen. Sie begann mit der Netzwerkarbeit. Das Telefon war ihr ständiger Begleiter in dieser Zeit. Eva Tichauer Moritz telefonierte mit vielen Jüdinnen und Juden aus dem Raum Südniedersachsen. Innerhalb von zwei Wochen konnte sie die Gruppe auf 36 feste Mitglieder erweitern. Nun versuchte es Eva Tichauer Moritz beim Rabbiner erneut. Er zeigte sich beeindruckt und stimmte einer Gründung zu. Diese war aber gar nicht nötig. Zur Überraschung von Eva Tichauer Moritz wurden zur Zeit des NS-Regimes zwar die Mitglieder der jüdischen Gemeinde teils getötet, teils vertrieben, jedoch nicht die jüdische Gemeinde aus dem Register beim Amtsgericht Göttingen an sich gestrichen. Daher musste keine Neugründung vollzogen werden. 1994 wurde die „Jüdische Gemeinde Göttingen e.V.“ wiederbelebt. Auf der Gründungsversammlung bewarb sich Eva Tichauer Moritz um den Vorsitz der Gemeinde und wurde gewählt. Kurz darauf erfolgte die Anerkennung durch den Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen.

Das "Löwenstein" und die neue Synagoge in der Roten Straße 28
Das „Löwenstein“ und die neue Synagoge in der Roten Straße 28

Ein Durchatmen blieb der neuen Gemeinde nicht vergönnt. Ende der 1980er-Jahre kamen nämlich russische Jüdinnen und Juden nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Deutschland. In den 1990er-Jahren erreichte die Immigrationswelle auch Göttingen. Als einziger Integrationsanker hätten die jüdischen Gemeinden gedient, erzählt Eva Tichauer Moritz. „Wir waren mit der Organisation und Integration der jüdischen Russen komplett alleine“, kritisiert sie. Neben der Aufbauarbeit wurde die jüdische Gemeinde in Göttingen also ein Integrationszentrum für die jüdischen Russinnen und Russen. Sie half mit den anderen Mitgliedern bei Behördengängen, Arztbesuchen, Terminen an der Schule oder bei der Wohnungssuche. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Göttingen stemmten eine Mammutaufgabe. Um die 400 Menschen mit jüdischem Hintergrund mussten einen Platz in Göttingen bekommen. Viel mehr Menschen, als die Gemeinde zu dem Zeitpunkt Mitglieder hatte. Auch der spätere Rechtsanwalt und renommierte Publizist Sergey Lagodinsky war als Jugendlicher unter den Immigranten in Göttingen. Eva Tichauer Moritz berichtet stolz von seiner Integrationsgeschichte und von seinen verschiedenen Positionen in der SPD, beim American Jewish Committee oder in der Heinrich-Böll-Stiftung und beim Bündnis 90/Die Grünen. Es scheint genau eine der Erfolgsgeschichten zu sein, die Gruppen solche Aufgaben überhaupt erst stemmen lassen. 

Neben der Integrationsarbeit wurde auch das jüdische Leben wiederbelebt. Gottesdienste wurden regelmäßig abgehalten und die erste Bar Mitzwa wurde gefeiert. Zunächst veranstaltete Eva Tichauer Moritz gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde die Festlichkeiten am alten Standort des Göttinger Gesundheitszentrums. Doch so langsam brauchte es eine feste Räumlichkeit. Die Suche gestaltete sich aber als sehr schwierig. Vor allem die Gespräche mit der Stadt Göttingen liefen enttäuschend ab. Mehr als zwölf verschiedene Standorte wurden vorgeschlagen. Aber immer kam etwas dazwischen und es musste ein neuer Ort gesucht werden. Eva Tichauer Moritz fühlte sich von den hiesigen Verantwortlichen nicht ernst genommen. Nach langer Suche wurde dann von der evangelisch-lutherischen Kirche das alte Pastorenhaus in der Angerstraße erworben. Neben der jüdischen Gemeinde war bereits ein Förderverein aus Unterstützerinnen und Unterstützern gegründet worden, um so Stück für Stück dem Ziel einer eigenen Synagoge näher zu kommen. 2001 ging das Grundstück in der Angerstraße dank der Hilfe des Fördervereins ilfe des FördervereinsHin den Besitz der jüdischen Gemeinde über. Ein kleines Fachwerkhaus aus dem Landkreis Göttingen wurde als ehemalige Synagoge identifiziert und im Anschluss nach Göttingen gebracht.

Neben der Etablierung der jüdischen Gemeinde verstärkten sich die Konflikte zwischen den Mitgliedern. Vor allem zwischen russischstämmigen und nicht-russischstämmigen Jüdinnen und Juden kam es zu Argwohn, den sich Eva Tichauer Moritz bis heute nicht ganz erklären kann. In der Folge der steigenden Auseinandersetzung legte sie ihr Amt als Vorsitzende nieder, blieb aber weiter Mitglied. Als es dann zu theologischen Differenzen über die Gestaltung der Gottesdienste kam, trat sie mit einigen Gleichgesinnten aus und gründete zunächst im Jahr 2002 das Jüdische Lehrhaus Göttingen e.V. und dann 2005 die „Jüdische Kultusgemeinde für Göttingen und Südniedersachsen e.V.“. Dort entschieden sie sich, traditionellere Gottesdienste durchzuführen, als es zuletzt die Mehrheit der jüdischen Gemeinde wollte. Man spürt im Gespräch, dass diese Zeit nicht einfach war. Seitdem gibt es in Göttingen mit der bisherigen „Jüdischen Gemeinde Göttingen e.V.“ eine reformjüdische Gemeinde und mit der „Jüdischen Kultusgemeinde für Göttingen und Südniedersachsen e.V.“ eine traditionellere Gemeinde.

Eva Tichauer Moritz stand wieder am Anfang der Aufbauarbeit. Sie organisierte einen Treffpunkt bei „Arbeit und Leben“ in Göttingen. Zu den hohen Feierlichkeiten kam ein Kantor. Zunächst gab es keine Hilfe durch den Landesverband, der zwei Gemeinden in Göttingen nicht guthieß. Es dauerte um die zwei Jahre, bis Eva Tichauer Moritz für die neue Gemeinde Unterstützung aus Hannover erhielt. Da sie als Gemeinde traditionelle (aber nicht orthodoxe) Masorti-Gottesdienste veranstaltete, sprachen sie viele Menschen an, die jüdisches Leben intensiv in Göttingen leben wollten. Im Zuge dessen wurde die Kultusgemeinde vom Landesverband anerkannt.

Durch das Wachstum der Kultusgemeinde reichten die Räumlichkeiten bei „Arbeit und Leben“ in Göttingen nicht mehr aus. Sie zogen in eine Wohnung in der Roten Straße 28. Auch dort wurde es schnell zu klein und sie mieteten die Räume im Untergeschoss des Gebäudes an. Eine Synagoge wurde eingerichtet sowie eine Bibliothek. Im Keller des Hauses befindet sich auch eine traditionelle Mikwe, ein Bad zur rituellen Reinigung. Bereits vor der NS-Zeit stand das Gebäude im Eigentum der Familie des Göttinger Juden Carl Löwenstein, bevor es Ende der 1930er-Jahren „arisiert“ wurde, die Eigentümer alle tod, die letzten im KZ ermordet. Danach stand das Haus der Löwensteins unter Verwaltung der Stadt Göttingen, bevor es an die Mutter des späteren Eigentümers Anton Grüber verkauft wurde. Eva Tichauer Moritz beschreibt Anton Grüber heute als die „gute Seele“ von Begegnungsstätte, Restaurant und Kultusgemeinde. Nun herrscht dort wieder jüdisches Leben. Man merkt, Eva Tichauer Moritz die Freude über das Happy End der Geschichte des Hauses an. Der Kreis hat sich geschlossen. 2014 wurde dann das „Löwenstein“ eröffnet. Als Begegnungsstätte dient das Restaurant als Lokalität für viele jüdische Veranstaltungen. Auch der Zugang zur Synagoge führt über das Restaurant.

21:30 Uhr. Immer noch sitzen einige Gästegruppen im „Löwenstein“. Sie essen Hummus, Falafel oder Bulgur-Auberginen-Lasagne. Im Hintergrund spielt weiter die Klezmer-Musik. Die Menschen sehen glücklich aus und Eva Tichauer Moritz auch. Wir sind fertig mit unserem Gespräch. Das Judentum hat nach einem langen Weg in Göttingen wieder seinen festen Platz gefunden. Die Arbeit von Eva Tichauer Moritz und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern hat sich in den letzten Jahrzehnten gelohnt.