Mittwochmittag in der Göttinger Fußgängerzone. Bei lauen 13 Grad und wärmendem Sonnenschein laufen bereits viele Menschen durch die Innenstadt, einige mit Eis in der Hand. Der Buchladen Vaternahm liegt direkt auf der Weender Straße, zwischen einem Laden für Kunstrahmen und einem leeren Geschäft, dessen Auslage von Vaternahm genutzt wird. Vor der Eingangstür stehen rechts und links Körbe mit preisreduzierten Mängelexemplaren. Zwei Frauen stehen vor einer der Kisten und schauen sich interessiert die Bücher an.

Im Laden werde ich mit einem freundlichen „Herzlich Willkommen“ gegrüßt. Die Kasse ist gleich vorne links, neben ihr liegen die Spiele, ihr gegenüber stehen die Bestseller. Weiter hinten führt eine kleine Treppe hinter den Kinderbüchern hoch in den Hauptteil des Ladens. Hier befinden sich Romane, Krimis, Sachbücher und Ratgeber. Eine weitere kleine Treppe führt zu einer besonderen Abteilung des Buchladens: dem Bereich „Zweitausendeins“. „Zweitausendeins“ ist eine deutsche Musik- und Buchhandelsfirma, die 1969 in Frankfurt am Main gegründet wurde. Sie verkauft ihre Produkte über den Versandhandel und durch Kooperation mit lokalen Buchhandelsfilialen, unter anderem Vaternahm. Die Bücher, CDs und Filme der Firma „haben einen Kultstatus bei der 68-er Generation“, erklärt Mitarbeiter Andreas Dröscher.

Besondere Bücher und Musik in der Abteilung „Zweitausendeins“. Foto: Annika Quentin

„Zweitausendeins“ ist einer von Andreas Dröschers Lieblingsbereichen des Ladens. Er arbeitet hier seit über 20 Jahren. Als er nach seinem Referendariat keinen Arbeitsplatz fand, fing er zunächst als Aushilfskraft an und wurde später zum Festangestellten, der in dem kleinen Laden viel Mitspracherecht genießt. Außer ihm sind an diesem Mittwochmittag seine Kollegin, eine Kundin, die nach „Miss Merkel“ fragt, sowie ein Kunde, der sich begeistert die Musik-CDs anschaut, im Laden. Die Stimmung ist entspannt, es ist ruhig. Das einzige laute Geräusch ist das Telefon, das hin und wieder klingelt. Wir setzen uns an seinen Schreibtisch. Darauf stehen neben einer Vielzahl von Büchern ein Computer und ein Telefon. Um uns herum befinden sich Bücher zu den verschiedensten Themen und Musik-CDs, auf denen Miles Davis und andere Jazz-Musiker abgebildet sind.

Dröscher erzählt begeistert von seinem Job. Er schätzt besonders die familiäre Atmosphäre im Laden. Auf die Frage, was er nicht möge, antwortet er „das viele Schleppen von kiloschweren Bücherkisten“, z.B. bei Schulbuchbestellungen, die erst ins Auto und dann vom Auto in die Schule getragen werden müssen. „Das geht ganz schön ins Kreuz“, schmunzelt er. Die positiven Aspekte überwiegen für ihn ganz klar. Neben der Beschäftigung mit Literatur, Musik und Film mag er vor allem den Kontakt mit Kundinnen und Kunden sehr. „Viele kommen schon seit Jahrzehnten immer wieder hierher“, erzählt er. Man kenne sich. Neben den Menschen lerne man auch deren jeweiligen Geschmack kennen, was es einfach mache, Bücher zu empfehlen oder von Büchern abzuraten.
Vaternahm lädt mit seiner gemütlichen Ausstattung zum Verweilen ein. Eine gerade eingetretene Kundin setzt sich mit einem Buch in einen der Korbstühle und beginnt, darin zu lesen. Auch größere Buchhandelsketten versuchen dieses familiäre Gefühl zu erzeugen. Dafür bauen sie gemütliche Wohnzimmerecken mit Sofas auf, in denen es oft Kaffee und andere Heißgetränke gibt. Dies vermittelt ein Gefühl von Ruhe und lädt dazu ein, sich mit einem Buch für eine Weile hinzusetzen, und danach weiter zu schmökern. Falls man mal nichts finden sollte, haben die Verkäufer*innen oft einen guten Tipp parat. Diese sind erfahrungsgemäß zielführender als die beim Onlinekauf von einem Algorithmus errechneten Vorschläge, die häufig mehr als absurd sind. Das Gefühl ist ein anderes als das, was man erlebt, wenn man sich durch endlose Listen mit Artikeln, die einem gefallen könnten, klickt. Dennoch präferieren heute viele den schnellen Onlinekauf von Büchern, sei es über Plattformen wie amazon oder die Online-Bestelloption von Buchläden. Der Buchhandel passt sich den neuen Gegebenheiten an. Selbst kleine Läden bieten heute Online-Buchbestellungen an, wie Dröscher erklärt. Der einzige Nachteil: Sie können keinen kostenlosen Versand anbieten.

Onlineplattformen bestechen vor allem durch eine große Auswahl, die auf einer begrenzten Ladenfläche so nicht angeboten werden kann. Außerdem ist es für viele bequemer, ein Buch mit drei Klicks zu bestellen, als extra in die Stadt zu fahren um eins zu kaufen. Dröscher erklärt, dass der Onlinebuchhandel in Deutschland aber weniger Konkurrenz für lokale Buchläden ist als in anderen Ländern. Das liegt an der Buchpreisbindung. Diese schmälert auch die Konkurrenz von Buchhandelsketten, die die Preise sonst durch günstigere Einkaufspreise drücken könnten. Wegen der Buchpreisbindung passiert es auch seltener, dass sich Menschen erst im Laden beraten lassen und dann trotzdem online kaufen. Sie gilt allerdings nicht für fremdsprachige Bücher und Mängelexemplare.

Vaternahm bietet auch Kinderbücher an. Foto: Annika Quentin

Letztere sind ein besonderes Merkmal Vaternahms. Dröscher bezeichnet Vaternahm deswegen als modernes Antiquariat, insbesondere die zweite Filiale in der Theaterstraße. Ein modernes Antiquariat ist ein Buchladen, in dem besonders günstige Bücher verkauft werden, darunter neben Mängelexemplaren auch Restauflagen und Sonderausgaben. Anders als in regulären Antiquariaten sind die Bücher hier jedoch nicht gebraucht.
Eine weitere Besonderheit ist die Bedeutung von Taschenbüchern für Vaternahm. Über der Eingangstür steht TaBuLa als Abkürzung für Taschenbuchladen. Als Vaternahm 1957 gegründet wurde, galten Taschenbücher als „Schund“ und wurden deswegen kaum angeboten. Die Bildungsbürger*innen dieser Zeit bevorzugten gebundene Bücher. Dennoch entschieden sich der Verleger Rowohlt und ein Kassler Bahnhofsbuchhändler dazu, eine Buchhandlung mit Taschenbüchern zu eröffnen, um Literatur allen Menschen preiswert zugänglich zu machen. Der erste Taschenbuchladen öffnete an der Ecke der Weender Straße und der Jüdenstraße, und zog später in die Weender Straße um. Die zweite Filiale Vaternahms names Buchstern, die heute in der Theaterstraße ist, war vorher in der Groner Straße.

Statt auf eine große Auswahl setzen viele lokale Buchläden auf Individualität. Neben der Stellung als Laden für preisreduzierte Bücher und Taschenbücher richtet sich die Ausrichtung Vaternahms auch nach dem Wunsch der Käufer*innen. Vertreter*innen von Verlagen kommen mehrmals im Jahr vorbei und bringen Verkaufsprofile der Buchhandlung mit. Aus diesen lässt sich herauslesen, was gekauft wird, und damit auch, was angeboten werden sollte. Feministische Literatur zum Beispiel werde in den letzten Jahren immer beliebter und steht hier zuhauf im Regal der Sachliteratur. Diese vielen kleinen Besonderheiten machen Vaternahm bei den Göttinger Leserinnen und Lesern so beliebt. „Viele Menschen kommen mehrmals die Woche her, manchmal auch nur um Hallo zu sagen“, erzählt Dröscher. Sein Lächeln ist trotz seines Mund-Nasen-Schutzes sichtbar.

Sonderaufsteller wecken durch schöne Gestaltung Interesse. Foto: Annika Quentin

Trotzdem bleibt auch Vaternahm nicht vom Schwächeln der Buchbranche verschont, die seit Jahren sinkende Umsätze verzeichnet. Der Grund: ein Rückgang an Leserinnen und Lesern. Die Coronasituation führte zwar laut Börsenblatt dazu, dass unter Lesenden 25 Prozent der Befragten öfter zu einem Buch griffen, aber die Umsätze in der Buchbranche sind im Vergleich zum Vorjahr stabil geblieben. Das bestätigt den Trend, dass die Zahl an Lesenden kleiner wird. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen verlieren Bücher ihren Wert als Informationsquellen durch Suchmaschinen, die einem in Sekundenschnelle zahllose Quellen ausspucken. Zum anderen spielt auch die schwierige wirtschaftliche Lage, die von Unbeständigkeit und Inflation geprägt ist, eine Rolle. Obwohl Bücher meist nicht sehr teuer sind, beschreibt Dröscher, dass vor allem gebundene Bücher im Zuge der steigenden Lebenshaltungskosten für einige Menschen zu Luxusartikeln werden könnten. Dazu kommt die seit zwei Jahren anhaltende Pandemiesituation. Sie führe zu Unsicherheiten. Vor allem die Maskenpflicht in der Fußgängerzone sowie die Angst vor einer Infektion spielen laut Dröscher eine Rolle. Viele langjährige Kundinnen und Kunden hätten noch immer Bedenken, einkaufen zu gehen, oder überhaupt mit dem Bus herzufahren, besonders ältere Menschen.

Eine weitere Veränderung der letzten Jahre ist der Übergang vom gedruckten auf das elektronische Buch. Durch den Kauf von E-Book-Readern binden sich viele Leser*innen auch an bestimmte Anbieter von Literatur. „Früher war die Sommerferienzeit ein zweites Weihnachtsgeschäft, wenn die Leseratten noch schnell zehn Bücher für die sechs Wochen Urlaub eingekauft haben“, erinnert sich Dröscher. Bücher bedeuten jedoch auch Gepäck, das man sich mit einem E-Book-Reader spart. Auch im Hörbuchbereich verändere sich das Kaufverhalten. Statt CDs zu kaufen, werden Hörbücher heute meist runtergeladen oder gestreamt.

Positiv zu verzeichnen ist ein Trend der letzten Jahre, der zurück zum Kauf in lokalen Läden führt. Besonders junge Menschen kaufen Dröscher zufolge gerne bei Vaternahm, wenn sie erfahren, dass es keine Kette ist. Das macht Hoffnung. Wie schade wäre es, nicht mehr in einen Buchladen gehen zu können, „nur um sich mal umzusehen“, um dann mit sieben Büchern unterm Arm wieder herauszugehen? Das Schmökern zwischen den Regalen und die netten Gespräche mit den Mitarbeitenden nicht zu vergessen. Das hat definitiv mehr Charme, als allein vor dem Computer Artikel in einen Warenkorb einzufügen.

Neuerscheinungen und Beststeller stehen gegenüber der Kasse. Foto: Annika Quentin

Beim Rausgehen schaue ich mich noch einmal um. Neben Sachliteratur zum Krieg in der Ukraine stehen am Ausgang die Neuerscheinungen, und ein Buch weckt direkt mein Interesse. Ich bezahle es und gehe voller Vorfreude auf den Krimi aus dem Laden in die sonnige, belebte Fußgängerzone.