Die Journalistin, Publizistin und Kriegsreporterin Carolin Emcke im Portrait.

Carolin Emcke bei der Göttinger Poetikvorlesung im Januar 2016

Die geschichtsträchtige Aula am Wilhelmsplatz in Göttingen ist bis auf den letzten Platz besetzt. Das Gemurmel des Publikums verwandelt sich in gespannte Stille, als der erste Redner das unscheinbare Pult vorne, etwas seitlich stehend, betritt, und die Gastreferentin der heutigen Poetikvorlesung ankündigt. Eine preisgekrönte Journalistin sei sie. Essayistin, Publizistin und Kriegsreporterin. Als die Lobrede zu Ende ist und alle Augen erwartungsvoll auf das bis jetzt leer gebliebene, eindrucksvolle Rednerpult in der Mitte der Bühne gerichtet sind, steht Carolin Emcke auf und geht zu dem ihr respektvoll zugedachten Ehrenplatz. Zwischen den überdimensionalen historischen Portraits, die hinter ihr an der Wand hängen, an dem riesigen Rednerpult stehend, wirkt die Frau mit den schmalen Schultern beinahe ein wenig verloren. Ohne ein Wort zu sagen, schenkt sie sich mit konzentrierter Miene ein Glas Wasser ein. Ihre Haare sind kurz geschnitten und locker nach hinten gegeelt. Über der legeren, ausgewaschenen Jeans und einer grauen Kapuzenjacke trägt sie einen dunklen Blazer, der sich wie ein Fremdkörper nicht so ganz in das Gesamtbild einfügen mag. Schließlich blickt sie auf. Ihre Gesichtszüge entspannen sich und sie murmelt lächelnd einen ironischen Kommentar über den „komischen Altar“ an dem sie steht in das Mikrofon. Während sich die Spannung des Publikums in Sympathie verwandelt, beginnt Carolin Emcke mit ihrer Vorlesung. Langsam und deutlich, fast monoton aber dennoch eindringlich, beginnt sie zu reden. Sie erzählt vom Tod ihres Vaters, wie sie seinen Leichnam sah, der so friedlich und unversehrt da lag und damit im Kontrast zu all den anderen Leichen stand, die sie bis dahin gesehen hatte. Gefolterte, gequälte, verstümmelte tote Körper hilfloser Opfer hat Carolin Emcke schon zu oft gesehen, als dass es sich ein verwöhnter Wohlstandsbürger, der sich des Privilegs, angstfrei auf die Straße treten zu können, nicht bewusst ist, vorstellen kann.

Zeugin der Zeugen

1999 war Emcke zum ersten Mal als Kriegsreporterin unterwegs. Seit einiger Zeit arbeitete sie für das Magazin „Der Spiegel“ und meldete sich als junge, in der Auslandsberichterstattung unerfahrene Journalistin freiwillig dafür, aus dem kriegserschütterten Kosovo zu berichten. In den Flüchtlingslagern der Vertriebenen, zwischen
Lärm und Schlamm, Elend und Zerstörung, Gewalt und Tod, begegnet ihr eine Welt, die dem bis dahin Gekannten so sehr widerspricht, dass alles für real Gehaltene ad absurdum geführt wird. Emcke beschreibt ihre Erlebnisse im Krieg als eine Wirklichkeit, die ein Zerrbild der Wirklichkeit ist, die wir kennen. Das macht es so schwierig von ihr zu berichten, Zeuge der Zeugen von Unvorstellbarem zu sein, ihnen eine Stimme zu geben und Worte für das zu finden, was einen eigentlich sprachlos macht. Aber gerade das ist die Aufgabe, der sich Carolin Emcke verschrieben hat. Erst wenn die Sprachlosigkeit überwunden wird, wenn das Unsagbare sagbar gemacht wird, werden Opfer von Entrechtung und Gewalt zu Individuen, denen Emcke durch das Aufschreiben ihrer Geschichten eine Stimme verleiht. Als Journalistin ist sie gleichsam Übersetzerin der Erlebnisse und Erfahrungen anderer. Auf ihre Reise in den Kosovo folgten unzählige weitere Auslandsaufenthalte in Krisen- und Kriegsgebieten wie dem Libanon, Afghanistan, Pakistan, Kolumbien, Rumänien und dem Irak. Auch hier war sie oft in Flüchtlingslagern unterwegs und begleitete die Schicksale von Vertriebenen, Rebellen, Familien und Freunden. Ein Hauptteil ihrer Arbeit ist das Kennenlernen. Sie schafft Vertrauen, um sich der Geschichten der Menschen als würdig zu erweisen. Dabei ist vor allem das Zuhören enorm wichtig, auch wenn das, so Emcke, nicht immer einfach ist, wenn die Menschen verstört sind und durch Folter und Leid ihre eigene Sprache verloren haben. Für viele ist es, erzählt sie weiter, eine Erleichterung zu ihr sprechen zu können in dem Wissen, dass ihre Geschichte aufgeschrieben und gehört wird.

„präzise und schweigsam“

Von der Utopie, dass jeder Artikel etwas erreichen kann und eine Wirkung erzielt, ist sie im Laufe der Zeit abgekommen. Dennoch ist die Frage nach dem „Wozu?“ für sie evident, denn das Schreiben ist und bleibt eine Verantwortung und fraglose Notwendigkeit. Wenn sie für andere spricht, arbeitet sie „präzise und schweigsam“ und lässt bewusst ein „Ich“ in ihre Berichte mit einfließen. Denn Emcke will sich nicht hinter Objektivität verstecken, sondern ihre eigene Fehlbarkeit und Zweifel offenlegen, um die Glaubwürdigkeit der Zeugen nicht zu schmälern. Beim Schreiben ihrer Berichte vom Krieg denkt sie nicht an eine Leserschaft und ob dieser der Text gefällt, sehr wohl aber daran, welche Reaktionen er in einer Gesellschaft hervorrufen könnte und welche Konsequenzen sich daraus möglicherweise für ihren Zeugen der Geschichte ergeben.

Wenn Ehrlichkeit gefährlich wird

Carolin Emcke schreibt nur, wenn sie sich dem Thema gewachsen fühlt und überzeugt und ehrlich hinter dem stehen kann, was sie erzählt. Doch das mit der Ehrlichkeit ist nicht immer ganz einfach, wenn sie zur Gefahr wird. Die Journalistin lebt in Deutschland offen homosexuell. Bei ihren Vorträgen und Lesungen musste sie feststellen, dass diese Thematik immer noch schwieriger und vorurteilsbelasteter ist, als man es sich von einer modernen,
aufgeklärten Gesellschaft erhoffen würde. „Es ist das Rumpelstilzchen-Prinzip – nur andersherum“, erklärt sie. Erst wenn es ausgesprochen wird, wird plötzlich zur vermeintlichen Bedrohung, was vorher nicht von Bedeutung war. Verstellen will sie sich nicht. Aber in einem Land, in dem Homosexualität verboten und unter Strafe gestellt ist, wird die Wahrheit zu sagen nicht nur zur Gefahr für sie selbst, sondern auch für Mitreisende und Bekannte. Um andere nicht zu gefährden, spricht sie ihre Sexualität in diesen Ländern nicht an und weicht Fragen danach aus. Dann bekommt sie manchmal Heiratsangebote aus Mitleid, erzählt Emcke. Aber lügen würde sie nicht, auch wenn das vielleicht einiges einfacher machen würde.

Der Terror des Schweigens

Die Berliner Journalistin wirkt offen, nahbar und direkt. Ihre Präsenz ist stark und ihre Sprache wird im Laufe des Vortrags bildlicher und emotionaler, ohne dabei pathetisch zu sein. Fast ist man geneigt zu glauben, diese Frau könne wirklich alles kühl und hinterfragt bedenken, ihr könne niemand etwas anhaben. Wenn sie von ihren Erfahrungen in Kriegsgebieten berichtet, ist es fast schon zu nüchtern, zu bedacht, zu gefasst. Wie kann ein Mensch die Anblicke des Krieges ein ums andere Mal ertragen, ohne irgendwann an Machtlosigkeit und Resignation zu scheitern oder zynisch zu werden? In die Krisengebiete zu reisen schien ihr selbst nie riskant. Das bezeichnet sie heute selbst als irrational. Dann spricht Emcke von Angst. Der Angst, selbst Opfer von Gewalt zu werden und in den Zirkel der Eskalation hineingezogen zu werden. Die Erinnerung daran geht ihr sehr nah, sie muss den Vortrag kurz unterbrechen.

„Für Zynismus habe ich kein Gen“

Angst kann Menschen verändern. Das haben wohl die wenigsten so oft vor Augen geführt bekommen wie Carolin Emcke. Aber ihr eigenes ethische Grundgerüst hat sich durch ihre Arbeit nicht geändert. Sie ist zugänglicher geworden, menschenzugewandter und offener, aber nicht zynisch. „Dafür habe ich kein Gen“, sagt sie.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich Carolin Emcke ihr ganzes Leben lang mit Opfern und Tätern und dem Nachdenken und Sprechen über Gewalt beschäftigt. Am 30. November 1989 wurde ihr Patenonkel, Alfred Herrhausen, damals Sprecher der Deutschen Bank, von der RAF ermordet. Emcke war zu der Zeit Studentin in Harvard. Erst zwei Jahrzehnte später verarbeitet sie den Terror in einem Buch und verleiht ihrem größten Wunsch Ausdruck: Die Täter sollen endlich über ihre Taten sprechen. Die Unwissenheit und das Schweigen machen die Journalistin rastlos. Es sind zu viele Fragen, auf die es vermutlich niemals eine Antwort geben wird. Wieder ist das Rumpelstilzchen-Prinzip bezeichnend: Etwas beim Namen nennen zu können nimmt zumindest einen Teil des Schreckens. Im Schreiben hat Emcke ihre Therapie gefunden. Ihre Texte sind persönliche Aufarbeitung, Information und politische Statements zugleich. Sie schreibt in den verschiedensten journalistischen und literarischen Formen und nicht selten kommt der Leser nicht umhin festzustellen, dass sie sich sowohl im Studium als auch in der Zeit danach immer wieder mit der Philosophie auseinandergesetzt hat. Der Wunsch, die richtigen Worte zu finden, lässt die Sprache in manchen ihrer Texte verkrampfen. Ein akademisches, stilbedachtes Schreiben und das ständige Betonen des „Ich“ können beim Leser leicht den Eindruck von Überheblichkeit hervorrufen. Befasst man sich aber tiefergehend damit, ist das vor dem Hintergrund eines offensichtlichen Wunsches nach Perfektion verzeihlich. Der Facettenreichtum und die unterschiedlichen Erfahrungen ihres Lebens spiegeln sich in der Gesamtheit ihrer Reportagen, Essays, Briefe, Kolumnen und Diskussionen wieder. Seit 2004 moderiert sie die monatliche Diskussionsveranstaltung „Streitraum“ in Berlin und hat eine Kolumne in der Süddeutschen Zeitung. Daneben ist sie als freie Publizistin tätig und setzt sich immer wieder für Themen, die ihr am Herzen liegen, ein. Seit zwei Jahren hat sie keine Reisen mehr in Kriegsgebiete unternommen und arbeitet an einem neuen Buch. Ein kleines bisschen Zufall spielt in ihrem Leben aber doch eine Rolle. Am 11. September 2001 wurde sie in New York selbst Zeugin des Terrors. Eigentlich war Emcke dort im Urlaub, um einmal Abstand zu den Schauplätzen des Krieges nehmen zu können.

Am Ende der Vorlesung tritt Carolin Emcke hinter ihrem Rednertisch hervor und begibt sich mit dem Publikum ins Gespräch. Das ist es wohl, was ihr am meisten liegt: der Umgang mit Menschen. Am Ende ist es ihre Philosophie, die sich einprägt. Man kann Dinge nicht immer verändern und erst recht nicht ungeschehen machen, aber sich ihnen zu stellen, zu hinterfragen und davon zu erzählen, nimmt einen Teil des Schreckens.